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Video: Abendschau | 15.09.2017 | Jo Goll, Sascha Adamek | Quelle: dpa/Michael Kappeler

rbb-exklusiv | Interner Polizei-Bericht zum Anschlag in Berlin

Fahndung nach Amri kam viel zu spät

Nach dem Anschlag auf dem Berliner Breitscheidplatz leitete die Berliner Polizei erst nach Stunden wichtige Anti-Terror-Maßnahmen ein. Das geht aus einem internen Bericht hervor, der dem rbb und der "Berliner Morgenpost" vorliegt. Die Einsatzleitung sei "ungeübt gewesen". Von Sascha Adamek und Jo Goll

Nach dem Terroranschlag auf dem Berliner Breitscheidplatz am 19. Dezember vergangenen Jahres muss sich die Berliner Polizei erneut schwere Versäumnisse vorwerfen lassen. Laut einem bisher unveröffentlichten polizeiinternen Bericht, der dem rbb und der "Berliner Morgenpost" vorliegt, hat die Behörde mehr als drei Stunden verstreichen lassen, bis sie die bei Terrorlagen vorgesehenen "Fahndungssofortmaßnahmen" einleitete.

In den ersten Stunden nach der Lkw-Todesfahrt suchten die Einsatzkräfte daher weder gezielt die Umgebung des Breitscheidplatzes ab, noch kontrollierten sie mögliche Fluchtwege auf Straßen oder Bahnstrecken. Der Attentäter Anis Amri konnte sich so frei in der Stadt bewegen und ungehindert seine Flucht antreten.

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"Maßnahme 300" erst um 23:08 Uhr ausgelöst

Die Spezialisten des Berliner Landeskriminalamtes gingen nach der Lkw-Todesfahrt laut Polizeibericht frühzeitig davon aus, dass es sich um einen Terroranschlag handelte. Der diensthabende Polizeiführer klassifizierte die Lage dennoch zunächst als "Verdachtsfall Amok"und verzichtete auf die als "Maßnahme 300" bezeichnete sofortige Fahndung. Hinter "Maßnahme 300" verbirgt sich die Anweisung, sämtliche islamistischen Gefährder zu Hause aufzusuchen und so genannte Verbleibskontrollen durchzuführen.

Grund war laut Bericht unter anderem, dass die Polizei bereits eine halbe Stunde nach dem Anschlag einen Tatverdächtigen festgenommen hatte. Weitere Maßnahmen hielt die Polizeiführung daher offenbar nicht für nötig. Später stelle sich allerdings heraus, dass der Festgenommene mit dem Anschlag nichts zu tun hatte, und der wahre Täter, Anis Amri, bewaffnet und flüchtig war.

Die "Maßnahme 300" wurde in Berlin erst am 19. Dezember um 23:08 Uhr ausgelöst, also mehr als drei Stunden nach dem Anschlag. In Brandenburg, Thüringen und Bayern, sowie von der Bundespolizei, wurden umfassende Fahndungsmaßnahmen laut Berliner Polizeibericht dagegen bereits deutlich früher eingeleitet. Das Lagezentrum Bayern beauftragte bereits um 21:36 Uhr das Polizeipräsidium Oberfranken aufgrund des "Terroranschlags auf den Berliner Weihnachtsmarkt" mit einer Fahndung. Thüringen ließ um 22:20 Uhr eine Kontrollstelle auf der A9 errichten. Die Kommunikation der Berliner Polizei sei von Sicherheitsbehörden mehrerer Länder "als unzureichend kritisiert" worden.

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Auch die Klassifizierung des Ereignisses in Berlin ist dem Bericht zufolge mehr als eigentümlich verlaufen: Noch am Tag nach dem Anschlag klassifzierte die Berliner Polizei ihn als "Verdacht des Anschlagfalls". Erst am 20. Dezember um 16 Uhr war der Anschlag nun auch in der Berliner Polizeikommunikation ein "Anschlag".

"Ungeübte Führungsgruppe"

Der 120 Seiten starke Bericht der polizeiinternen sogenannten "Nachbereitungskommission" liegt in der Berliner Polizei nach Informationen der "Berliner Morgenpost" und des rbb bereits seit etlichen Monaten vor, wurde aber bisher nicht öffentlich gemacht. Er behandelt das gesamte Einsatz- und Ermittlungsgeschehen nach dem Anschlag auf dem Breitscheidplatz.

Die Verfasser nennen darin weitere schwerwiegende Versäumnisse. In den ersten drei Stunden nach dem Anschlag sei der Einsatz durch eine "ungeübte Führungsgruppe" geleitet worden, deren Personalzusammensetzung "zufällig ausgewählt" gewesen sei. Die Einsatzkräfte am Anschlagsort hätten "keine Aufträge" erhalten "und "handelten in weiten Teilen intuitiv", heißt es. "Der benötigte zeitliche Vorlauf bis zur Führungsübernahme durch den Polizeiführer Phase 2 mit fast drei Stunden ist als problematisch zu bewerten", heißt es in dem polizeiinternen Papier. 

Die handelnden Führungspersonen waren überdies in wichtigen Punkten unvorbereitet. So gebe es zwar digitale Einsatzakten, in denen zum Beispiel Checklisten verzeichnet sind, die den Beamten klarmachen, was zu tun ist. "Gleichwohl war die Existenz der Einsatzakte nicht allen eingesetzten Führungskräften bekannt."

Scharfe Kritik an Polizei-Führung

Der innenpolitische Sprecher der FPD, Marcel Luthe, sprach angesichts des Berichts von einem "heillosen Durcheinander" und forderte indirekt den Rücktritt des Berliner Polizeipräsidenten Klaus Kandt. "Wenn die Aussagen des Berichts zutreffen, ist die Führung der Berliner Polizei meines Erachtens nach nicht zu halten", sagte Luthe dem rbb und der "Berliner Morgenpost".

Deutliche Kritik äußerten auch die in Berlin mitregierenden Grünen und die Linke. "Es muss geklärt werden, wer das zu verantworten hat, dass man Amri hier sehenden Auges hat laufen lassen und damit die Gefährdung der Berliner und Berlinerinnen riskiert hat", sagte die rechtspolitische Sprecherin der Grünen, Canan Bayram. Der Innenexperte der Linke, Hakan Tas, forderte, Polizeipräsident Kandt müsse sich im Amri-Untersuchungsausschuss erklären.

Der innenpolitische Sprecher der FPD, Marcel Luthe, sprach angesichts des Berichts von einem "heillosen Durcheinander" und forderte indirekt den Rücktritt des Berliner Polizeipräsidenten Klaus Kandt. "Wenn die Aussagen des Berichts zutreffen, ist die Führung der Berliner Polizei meines Erachtens nach nicht zu halten", sagte Luthe dem rbb und der "Berliner Morgenpost".
Der innenpolitische Sprecher der FPD, Marcel Luthe, sprach angesichts des Berichts von einem "heillosen Durcheinander" und forderte indirekt den Rücktritt des Berliner Polizeipräsidenten Klaus Kandt. "Wenn die Aussagen des Berichts zutreffen, ist die Führung der Berliner Polizei meines Erachtens nach nicht zu halten", sagte Luthe dem rbb und der "Berliner Morgenpost".

Beitrag von Sascha Adamek und Jo Goll, Redaktion Investigatives und Hintergrund

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