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Quelle: imago/Steinach

Atomkraftwerk zu weit weg

Jodtabletten gegen Strahlung auch in Zukunft nicht sinnvoll

Nach dem russischen Angriff auf Europas größtes Atomkraftwerk steigt die Nachfrage nach Jodtabletten – aus Angst vor radioaktiver Strahlung. Sie deshalb einzunehmen, ist sinnlos bis gefährlich. Von Konrad Spremberg

Mehrmals täglich fragen Kundinnen und Kunden nach Jodtabletten in der Potsdamer Plantagen-Apotheke. Normalerweise interessiert sich kaum jemand dafür, sagt Apothekerin Antje Oesberg. Sie betont jetzt: "Das prophylaktisch einzunehmen hat keinen Sinn!"

Auch das Bundesamt für Strahlenschutz warnt davor, anlasslos Jodtabletten einzunehmen oder Vorräte anzulegen. Die selbständige Einnahme berge erhebliche gesundheitliche Risiken. Sie sollte deshalb nur nach Aufforderung durch die Behörden geschehen.

Selbst wenn beim Angriff auf das Atomkraftwerk Saporischschja in der Nacht zum Freitag große Mengen Radioaktivität freigeworden wären – worauf aktuell nichts hindeutet – in Deutschland kämen Jodtabletten ziemlich sicher nicht zum Einsatz.

Sinnvoll nur bis 100 Kilometer Entfernung

Der wichtigste Grund: Das Bundesamt hält hochdosiertes Jod nur bis zu einer Entfernung von etwa einhundert Kilometern um einen Unglücksort überhaupt für sinnvoll. Vom südöstlichen Brandenburg bis zum nächstgelegenen Ukrainischen Kernkraftwerk sind es rund 800 Kilometer. Damit spielt Jod im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine auf absehbare Zeit keine Rolle für die Menschen in Deutschland.

Ohnehin schützen hochdosierte Jodtabletten nur vor einer ganz bestimmten Gefahr: der Aufnahmen von radioaktivem Jod in den Körper, was zu Schilddrüsenkrebs führen kann. Bei einem Atomunglück werden aber wesentlich mehr radioaktive Stoffe frei. Aus diesem Grund beobachten die deutschen Behörden die Situation der Kernkraftwerke in den Kriegsgebieten aufmerksam, die Entfernung bedeutet nicht in jeder Hinsicht Sicherheit für Deutschland

114 Messstellen in Berlin und Brandenburg

Um bei kleinsten Abweichungen sofort reagieren zu können, überwacht das Bundesamt für Strahlenschutz Radioaktivität auf deutschem Boden kleinteilig. An 114 Messstellen in Berlin und Brandenburg wird die natürliche Strahlenbelastung rund um die Uhr gemessen. Die Standorte aller 1.700 Messpunkte in Deutschland sind auf einer Karte einsehbar [odlinfo.bfs.de]. Aktuell sind keine Auffälligkeiten zu verzeichnen.

"Wir sind immer vorbereitet auf eine Situation, in der radioaktive Elemente austreten", sagte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) am Freitag bei einem Besuch im Einsatzführungskommando der Bundeswehr in Geltow. Er bezog sich direkt auf den Krieg in der Ukraine: "Das ist jetzt nicht passiert. Es zeigt aber, wie gefährlich die Situation ist. Kriege führen dazu, dass Zerstörung angerichtet wird, wo sie vielleicht keine der Kriegsparteien vorhat, die aber schreckliche Auswirkungen haben kann."

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Kernkraftwerke sind nicht für Krieg ausgelegt

Die unabsichtliche Beschädigung von Atomkraftwerken im Krieg ist eine realistische Gefahr, obwohl die Kraftwerke mit vielen Sicherheitsvorkehrungen versehen sind. Denn militärische Angriffe werden beim Bau von Kernkraftwerken normalerweise nicht mit eingeplant, sagt Dr. Matthias Englert, Experte für Nukleartechnik und Anlagensicherheit beim Öko-Institut e. V.

Käme es zu einem Atomunglück – in der Ukraine oder anderswo – wäre neben der Entfernung zum Unglücksort vor allem das Wetter entscheidend. Wind und Wetter beeinflussen maßgeblich, welchen Gebieten eine radioaktive Wolke gefährlich werden kann. Wäre die Bundesrepublik betroffen, würden die Katastrophenschutzbehörden die notwendigen Maßnahmen einleiten.

"Man müsste 500 Tabletten nehmen"

Bei einem Unfall in der unmittelbaren Umgebung könnte das auch die Verteilung von Jodtabletten bedeuten. Dafür werden mehr als 180 Millionen Tabletten an verschiedenen Standorten gelagert. Die Bundesländer würden ihre Verteilung bspw. über Rathäuser, Feuerwachen und Apotheken organisieren.

Diese Tabletten sind mit dem frei verkäuflichen Jod aus Apotheken aber nicht vergleichbar, sie müssen im Katastrophenfall viel höher dosiert sein. "Diese Dosierung kann man mit den normalen Tabletten, die man für die Schilddrüsenprophylaxe einnimmt, nicht erreichen", so Apothekerin Antje Oesberg. "Davon müsste man 500 Tabletten einnehmen, um die entsprechende Dosierung zu erreichen. Es macht also überhaupt keinen Sinn, mit normalen Jodid-Tabletten einen Vorrat anzulegen."

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Radioaktivität betrifft die Landwirtschaft unmittelbar

Nach einem Unglück viel wahrscheinlicher wären in Deutschland Folgen für Ernährung und Landwirtschaft. Das könnte bedeuten, dass Felder abgeerntet und Vieh fest in Ställe verlegt werden müsste. Auswirkungen auf die Lebensmittelversorgung könnten die Folge sein. So ein Szenario wäre durchaus denkbar, würde in der Ukraine tatsächlich radioaktive Strahlung frei. Das bestätigt der Sprecher des Bundesamtes für Strahlenschutz, Achim Neuhäuser, dem rbb.

Engpässe gibt es aber heute schon, und zwar für Menschen, die auf Jodtabletten angewiesen sind. Sie bekommen in vielen Apotheken, auch online, ihre Präparate gegen Jodmangel und Schilddrüsenerkrankungen nicht mehr. Der Grund: Menschen horten niedrig dosierte Jodtabletten aus Angst vor radioaktiver Strahlung – emotional nachvollziehbar vielleicht, sinnlos in jedem Fall.

Sendung: Brandenburg Aktuell, 04.03.2022, 19:30 Uhr

Beitrag von Konrad Spremberg

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