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ARD-Kontraste und rbb24 Recherche

Home-Schooling verschärft Bildungsschere bei Berliner Kindern

Seit Wochen sind Schulen und Kitas geschlossen, für Grund- und Förderschulkinder greift die Notbetreuung nur in Ausnahmen. Benachteiligte Kinder trifft das besonders schwer. Die Bildungsschere durch Corona wird immer größer. Von Jenny Barke und Jo Goll

Familie El Dahoud ist an der Belastungsgrenze. Seit Jahren suchen die Eltern von vier Kindern in Berlin eine größere Wohnung, doch sie sind chancenlos. "Meistens wenn wir uns für eine größere Wohnung bewerben, lehnen sie uns ab, weil wir zu viele Kinder haben", sagt Silvana El Dahoud. Aktuell lebt die gelernte Mode-Schneiderin mit ihrem Mann und den vier Kindern auf 65 Quadratmetern: Für sechs Personen gibt es einen Raum zum Schlafen für alle und einen Raum zum Essen, Fernsehen und Spielen.

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Vor allem um ihre zwei Söhne macht sie sich Sorgen, sagt Silvana El Dahoud. Die acht- und zehnjährigen Grundschüler müssen im Home-Schooling angeleitet werden - zudem zwei Kleinkinder betreut. Das stellt in der kleinen Zweiraumwohnung eine große logistische Herausforderung dar: "Wir machen Hausaufgaben und Home-Schooling und dann kommen die dazwischen, wollen auf deren Hausaufgaben drauf malen", sagt Silvana El Dahoud.

Familie bekommt trotz erschwerter Lernbedingungen keine Notbetreuung

Dass sich Familien in dieser Lage überfordert fühlen, weiß auch die Neuköllnerin Rabia Hanane, Mitarbeiterin des Projekts "Stadtteilmütter". Gemeinsam mit ihren Kolleginnen kümmert sie sich um Familien wie die El Dahouds, die massiv unter den Schulschließungen leiden. "Die Mutter ist überfordert, die Kinder weinen ganz oft. Wir bemerken auch, dass viele Mütter eine Depression haben", sagt Hanane.

Obwohl Silvanas Söhne Hassan und Elias im Homeschooling unter diesen Bedingungen stark benachteiligt sind, wird für sie keine Betreuung ermöglicht. Denn in Berlin gilt die Notbetreuung nur für alleinerziehende Eltern oder für Familien, in denen mindestens ein Elternteil in systemrelevanten Berufen tätig ist. Dabei bräuchten die beiden Grundschulkinder dringend Unterstützung. Das Geld in der Familie ist knapp, im Haushalt der El Dahouds gibt es nur einen Laptop. Zeitgleich können der Acht- und der Zehnjährige nicht am Online-Unterricht teilnehmen.

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Neuköllner Gesundheitsstadtrat Liecke: "Spätfolgen werden massiv sein"

Viele Berliner Kinder leben in ähnlich schwierigen Verhältnissen. Der Neuköllner Gesundheitsstadtrat Falko Liecke (CDU) befürchtet, dass sie auf der Strecke bleiben: "Corona produziert gerade unglaublich viele Verlierer. Die Spätfolgen werden massiv sein." Denn eine soziale Komponente für die Notbetreuung, wie sie Familie El Dahoud bräuchte, gibt es in Berlin nicht, so Liecke.

Diese Politik könnte fatale Folgen haben, sagt auch der Berliner Grundschulleiter Jens Otte. In seiner Grundschule, der Bruno H. Bürgel Grundschule, sind etwa 20 Kinder trotz aller Bemühungen der Lehrer abgetaucht. "Es gibt Familien, die waren vorher schon schwer zu erreichen, die sind zum Teil ganz weggerutscht", sagt Otte. Für ihn ist deshalb der Präsenzunterricht unersetzlich, doch der Senat habe all seine Bemühungen dazu abgelehnt. Aus eigener Kraft habe er mit Unterstützung durch Eltern, mit Luftfiltern und Musterhygieneplan den Präsenzunterricht anbieten wollen.

Senat: Für Präsenzunterricht gibt es noch kein Datum

Auf Anfrage von Kontraste und rbb24 Recherche, ab welchem Sieben-Tage-Inzidenzwert die Berliner Grundschulen wieder geöffnet werden, verweist der Senat auf die Beratungen auf Bund-Länder-Ebene Mitte nächster Woche. Für einen Präsenzunterricht würde derzeit mit der Senatsverwaltung für Gesundheit ein Konzept für selbsttestfähige Schnelltests entwickelt, heißt es weiter. Insgesamt seien neun Millionen Euro für mobile und stationäre Luftreinigungsgeräte bereitgestellt worden, zusätzlich zu CO2-Messgeräten für die Schulen.

Bis ein Termin für eine Schulöffnung gefunden ist, müssen Eltern also weiter ihre Kinder zuhause unterrichten. Allerdings: Die notwendige Technik wird dafür nur im geringen Maße bereitgestellt und die digitalen Schulungsmethoden nicht an die Lehrer vermittelt, sagt Lehrerin Wera Barth: "Wir sollen alles machen, aber wie wir es machen, da müssen wir uns selbst kümmern."

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Auch Eltern sind davon überfordert, wie Mark Reuter, der per E-Mail Anweisungen erhält, wie er seinen Sohn unterrichten soll. Oft, so Reuter, kommt er mit dem Unterrichtsstoff nicht zurecht. Er hätte sich ein Jahr nach der Pandemie eine bessere Organisation des Home-Schoolings gewünscht.

Studie: Technische Ausrüstung für Schüler hängt von Schulform ab

Eine Studie aus Nordrhein-Westfalen (NRW) bestätigt, dass die Bildungsungleichheit wächst. Demnach hat über alle Schulformen hinweg etwa jeder vierte Schüler nur einmal die Woche oder nie Kontakt zum Lehrer. Zudem seien demnach ausgerechnet die Schulformen mit den größten pädagogischen Herausforderungen bei der technischen Ausstattung benachteiligt: Während rund 60 Prozent der Gymnasiasten digitale Endgeräte wie Tablets bereitgestellt bekommen, sind es bei Haupt- und Realschulen lediglich 30 Prozent.

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An der Befragung haben 22.000 Eltern aus Nordrhein-Westfalen teilgenommen. Da die Umfrage online stattgefunden hat, ist davon auszugehen, dass ausgerechnet Familien ohne digitale Ausstattung unterrepräsentiert sind. Die Realität könnte also noch schlechter aussehen.

Bildungsexperten rechnen damit, dass die Corona-Pandemie bei einem Drittel aller deutschen Schülerinnen und Schüler zu Bildungsrückständen führen wird. Die Pädagogikprofessorin Anja Wildemann warnt davor, dass sich die Bildungsschere weiter vergrößert: "In kaum einem anderen Land entscheidet die Herkunft und das soziale Gefüge so stark über Bildungserfolg wie in Deutschland." Deshalb fällt das Fazit der Studienautoren aus NRW ähnlich aus wie das des Berliner Grundschulleiters Otte: Der tägliche Distanzunterricht darf ihrer Meinung nach nicht weiter fortgeführt werden, die Langzeitfolgen sind zu gravierend.

Sendung: Kontraste, 04.02.2021, 21:45 Uhr

Beitrag von Jenny Barke und Jo Goll

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