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Video: rbb|24 | 17.11.2021 | Material: rbb|24, Brandenburg aktuell | Quelle: rbb|24/Mara Nolte

Eltern protestieren

Was Experten vom erneuten Wechselunterricht an Berliner Schulen halten

An fünf Berliner Schulen gilt wieder Wechselunterricht. Doch es regt sich Protest von Eltern und Schülern: Schon wieder wären die Kinder die ersten Leidtragenden strengerer Pandemie-Maßnahme. Ist die Kritik berechtigt? Von Jenny Barke

Wegen sprunghaft gestiegener Corona-Infektionszahl sind in Berlin fünf Schulen wieder zum sogenannten Wechselunterricht zurückgekehrt. Vielen weiteren Schulen droht dieses Vorgehen in den folgenden Tagen, denn die Inzidenz bei den Kindern und Jugendlichen unter 15 Jahren liegt aktuell bei über 1.300.

Eine der betroffenen Schulen ist die Reinhardswald-Grundschule in Kreuzberg. Hier sind 20 Fälle bei den etwa 650 Schülern nachgewiesen worden, weshalb sich das Gesundheitsamt des Bezirks gemeinsam mit der Schulaufsicht der Senatsbildungsverwaltung dazu entschieden hat, die Schule auf "Gelb" zu setzen - also die Klassen im Wechsel zu unterrichten. Grundlage für die Entscheidung ist der sogenannte Corona-Stufenplan für Berliner Schulen, den der Hygienebeirat entwickelt hat [berlin.de]. Die Entscheidung für den Wechselunterricht fiel am Donnerstag, am Freitag wurden Lehrer und Eltern informiert.

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Eltern und Kinder kritisieren "Unverhältnismäßigkeit"

Eltern der betroffenen Kinder fühlten sie sich von der Entscheidung überrumpelt, sagt Hanne Stohrer, Mutter zweier Kinder an der Grundschule. Gemeinsam mit etwa 50 weiteren Elternteilen, Schülerinnen und Schülern startete sie am Montag vor der Schule an der Gneisenaustraße einen Protest: "Das muss man sich mal vorstellen, was das für die Familien bedeutet, wenn man von dem einen Tag auf den anderen für die nächste Woche alles umplanen muss." Die Bildungsverwaltung teilt in einer Stellungnahme dem rbb dazu mit, dass eine frühere Entscheidung nicht möglich sei, denn diese richte sich nach dem aktuellen Infektionsgeschehen.

Dabei wendet sich die Kritik der Eltern ausdrücklich nicht gegen die Corona-Maßnahmen im Allgemeinen. Sie kritisieren vielmehr die "Unverhältnismäßigkeit", mit der Kinder und Jugendliche im Vergleich zu anderen gesellschaftlichen Bereichen wieder benachteiligt würden. Auf ihren Plakaten verdeutlichen sie ihre Forderungen: "Schulen sollten als letztes schließen" und "Schule auf, Stadien zu". Die Prioritäten seien wieder einmal falsch gesetzt, aus vorangegangenen Corona-Wellen hätte die Politik nichts gelernt, heißt es von den Eltern.

Protest formiert sich nicht nur an der Kreuzberger Grundschule, auch auf den sozialen Netzwerken wird Kritik laut.

Hygienebeirat will Schulschließung unbedingt verhindern

Der Amtsarzt von Reinickendorf, Patrick Larscheid, widerspricht dem Tenor und wünscht sich eine differenziertere Analyse. Er ist Teil des 13-köpfigen Teams im Hygienebeirat, das den Stufenplan für Berliner Schulen entwickelt und in den vergangenen Monaten immer wieder den neuen Erkenntnissen angepasst hat. Man habe sehr wohl aus den anfänglichen Fehlern der Pandemie gelernt. Anders als zu Beginn sei Schulschließung nicht mehr das Mittel erster Wahl: "Wenn wir den Kindern die Schule wegnehmen, richten wir Schäden an, die schwer zu reparieren sind" sagt er. Es gebe zahllose Kinder mit emotionalen Störungen, die auf die Schließung von Schulen und Kitas zurückzuführen seien.

Dennoch sei Wechselunterricht im Einzelfall eine sinnvolle Überlegung, um das Infektionsgeschehen zu durchbrechen. Dazu werde inzwischen viel individueller auf jede einzelne Schule geschaut. Was zu der Entscheidung im expliziten Fall in Kreuzberg geführt habe, könne Larscheid allerdings nicht sagen.

Vom Gesundheitsamt Friedrichshain-Kreuzberg hieß es in einer Stellungnahme am Mittwoch: "In der genannten Schule ist es innerhalb einer Woche zu einem starken Anstieg der positiven Fälle gekommen. Es handelt sich außerdem um ein diffuses Geschehen, mit positiven Fällen in verschiedenen Klassen." Die Vorgabe für "Grün" im Corona-Stufenplan - also Regelbetrieb - sei jedoch "Kein oder einzelfallbezogenes Infektionsgeschehen". Das Gesundheitsamt sei in seinen Stellungnahmen an die Vorgaben aus dem Stufenplan gebunden.

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Kindermediziner: Kinder noch immer keine Infektionstreiber

Larscheid kennt Fälle, in denen eine Schulschließung für kurze Zeit nötig wird: "Zum Beispiel kann es sein, dass so viele Leute in Quarantäne müssen, dass es faktisch einer Schulschließung gleichkommt. Und dann ist es uns lieber, wir machen das Ganze für eine gewisse Zeit mal offiziell, aber wir bringen jetzt einfach mal Ruhe rein mit dieser Entscheidung." Diese Strategie hält der Amtsarzt von Reinickendorf zumindest für denkbar - in wirklich wenigen Ausnahmen. "Wir wollen den Wechselunterricht unbedingt vermeiden, weil wir wissen, dass es für die Kinder mehr Schäden anrichtet, als wenn wir sie in der Schule ließen."

Diesen Ansatz begrüßt auch der Kinder- und Jugendmediziner Jörg Dötsch von der Uniklinik Köln. Gemeinsam mit anderen Epidemiologinnen und Epidemiologen hat er zum Infektionsgeschehen geforscht. Die Ergebnisse dieser sogenannten Schulstudie hat die Kultusministerkonferenz in Auftrag gegeben [kmk.org]. "Für uns ist ganz klar, dass Kinder die Leidtragenden der Pandemie sind. Dabei sind sie in erster Linie nicht diejenigen, die das Virus verbreiten, auch nicht mit der Delta-Variante", sagt Dötsch.

Inzidenz bei Kindern und Jugendlichen erläuterungsbedüftig

Dabei seien die hohen Inzidenzen in der jungen Altersgruppe aus zwei Gründen erläuterungsbedürftig. Erstens würden Kinder und Jugendliche sehr selten stark krank, deshalb sei der Inzidenzwert nicht mit Erwachsenen vergleichbar. Und zweitens sei keine Gruppe systematisch besser erfasst - denn nur Kinder und Jugendliche würden regelmäßig in Kita und Schule getestet.

Dötsch warnt jedoch vor Kampfbegriffen wie "Durchseuchung". Auch bei Kindern und Jugendlichen müssten strenge Hygienekonzepte eingehalten werden, damit sich das Virus nicht unkontrolliert verbreite. "Dieses Extremszenario entspricht nicht den Realitäten, das halte ich für eine unsachliche und übertriebene Äußerung." Es gebe auch einen Denkfehler: "Ungeimpfte Erwachsene lehnen nicht nur die Impfung, sondern auch die Corona-Maßnahmen oft ab. Ungeimpfte Kinder halten sich hingegen meist an die Maßnahmen." Es fehlte oft das Vertrauen in die Kinder.

Er begrüßt daher die aktuellen politischen Debatten. "Es ist ganz wichtig, dass die Politik diskutiert, wie Erwachsene zu einer Impfung gebracht werden. Ich will da nicht polemisieren, aber es ist wichtig, dass die Politik darüber spricht, dass das Problem nicht die Schulen sind." Allerdings: Es brauche eine kühlere Debatte. "Das ist ein großer Fehler unserer Kommunikation, mit Extremszenarien Verhaltensweisen ändern zu wollen", sagt Dötsch.

Auch Amtsarzt Larscheid lehnt eine Polemisierung mit Begriffen wie "Durchseuchung" ab. Der Begriff wird immer gerne im Rahmen der Zuspitzung benutzt, wenn man die Debatte ins Triviale oder populistische abgleiten lassen will", sagt Larscheid. Dabei wägten die Mitglieder des Hygienebeirats sehr genau ab - und die Entscheidungen um offene Schulen oder Wechselunterricht seien nicht so trivial, wie sie scheinen.

Sendung: rbb24, 16.11.2021, 21:45 Uhr

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