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Audio: rbb24 Inforadio | 30.06.2022 | Sigrid Hoff | Quelle: Deutsches Historisches Museum/Eric Tschernow

Ausstellung: Staatsbürgerschaften

Wer gehört zu uns - und wer nicht?

Staatsbürgerschaften seit 1789 - das klingt sperrig, ist aber erstaunlich facettenreich. Eine neue Ausstellung im Deutschen Historischen Museum in Berlin zeigt, wie hochemotional - und aktuell - die Frage der nationalen Zugehörigkeit ist. Von Sigrid Hoff

"Der Pass ist der edelste Teil von einem Menschen. Er kommt auch nicht auf so einfache Weise zustand wie ein Mensch." 1940/41 hatte Bertolt Brecht dies in seinen Flüchtlingsgesprächen im US-amerikanischen Exil formuliert. Er wusste wohl, wovon er sprach.

Ein Pass gewährleistet, das sich die Bürger eines Staates auf dessen Schutz und Rechte beziehen können. Die Staatsbürgerschaft stellt fest, wer dazugehört – aber auch wer nicht. Die neue Ausstellung "Staatsbürgerschaften. Frankreich, Polen, Deutschland seit 1789" des Deutschen Historischen Museums in Berlin nimmt das bis heute brisante Thema in den Blick. Sie geht dem Bedeutungswandel des Begriffs nach. Und sie versucht die Ambivalenz aus Dazugehörigkeit und Abgrenzung am Beispiel der drei Nachbarländer in der Mitte Europas bis in die Gegenwart nachzuvollziehen.

Frage von Zugehörigkeit und Abgrenzung

Ein Video ist am Eingang zur Schau zu sehen: Besucher:innen in Berliner Parks wurden im Frühjahr 2022 danach befragt, welche Bedeutung der Pass für sie besitzt. Die Antworten fallen mehr oder weniger gleichgültig aus. Die meisten verbinden mit dem Dokument kein Nationalgefühl. Hätte man diese Frage vor 150 Jahren in Frankreich, Deutschland und ab 1918 im wiederbegründeten Polen gestellt, hätten die Antworten wohl dankbarer geklungen und die Liebe zum Vaterland hervorgehoben.

Es ist ein sperriges und bis heute hochemotionales Thema: Spätestens mit der Entstehung des modernen Nationalstaats im 19. Jahrhundert ist die Frage der Staatsbürgerschaft auch eine Frage von Zugehörigkeit aber auch Abgrenzung.

Triage-Pass von Jean-Jacques Tschopp, 1919, Colmar | Quelle: Archives départementales du Haut-Rhin

"Phasen tiefster Feindschaft bis hin zu dem Willen, den anderen auszulöschen"

Ausgangspunkt ist das Jahr 1789 mit der Erklärung der Menschenrechte in Frankreich. Sie rückt erstmals den citoyen, den Staatsbürger, ins Zentrum der Verfassung, stattet ihn mit Rechten und Pflichten aus. Ein chronologischer Überblick zeigt die jeweilige Entwicklung des Begriffs Staatsbürgerschaft, macht aber auch Ambivalenzen deutlich.

Das Verhältnis der drei Nachbarstaaten Frankreich, Deutschland und Polen im Herzen Europas in den letzten 200 Jahren ist mit dem jeweiligen Verständnis von Staatsbürgerschaft eng verknüpft. "Es hat friedlichen Austausch, Phasen von Assimilation, von Akkulturation, von Integration zwischen den Ländern gegeben, aber auch Phasen tiefster Feindschaft bis hin zu dem Willen, den anderen auszulöschen", sagt Kurator Dieter Gosewinkel.

Deutsches Historisches Museum

"Staatsbürgerschaften. Frankreich, Polen, Deutschland seit 1789"

Zwang, die Staatsangehörigkeit anzunehmen

Für gewaltsame Auseinandersetzungen in Form von Besetzung und Vertreibung stehen Grenzregionen wie Elsaß-Lothringen. Ein Gemälde mit dem Titel "Der Exodus" von 1872 zeigt eine elsässische Familie, die nach der Annektierung der Region durch das Deutsche Reich ihre Heimat verlassen muss - weil sie nicht die deutsche Staatsangehörigkeit annehmen will.

Das gleiche Schicksal erlitten viele Deutsche nach 1918 mit der Wiederbegründung des polnischen Staats. Diesem waren auch von Deutschen bewohnte Gebiete, etwa Teile Schlesiens, zugesprochen worden. Die Menschen dort hatten nur die Option, mit "Polen die Freiheit zu wählen", wie ein zeitgenössisches Plakat wirbt - oder das Land zu verlassen.

Exponat: Plakat "Typisch Deutsch" zur Einbürgerung, Die Beauftragte der Bundesregierung für Ausländerfragen, Köln, 2000 | Quelle: Deutsches Historisches Museum

Besonders hart von Diskriminierungen betroffen waren die Juden

Wie ausgrenzend der Begriffs Staatsbürgerschaft verwendet wurde, belegt ein Themenraum über Diskriminierungen. Frauen etwa galten in allen Ländern als Staatsbürgerinnen zweiter Klasse. Sowohl polnische Frauenrechtlerinnen wie auch Französinnen und Deutsche kämpften seit der Mitte des 19. Jahrhundert für politische Teilhabe und das Wahlrecht.

Besonders hart von Diskriminierungen betroffen waren die Juden, insbesondere in Deutschland in der NS-Zeit, als Staatsbürgerschaft mit Rassekriterien verbunden wurde. Auch das koloniale Herrschaftssystem Frankreichs basierte auf einer geteilten Staatsbürgerschaft: Die Angehörigen der Kolonialmacht besaßen die vollen Rechte als Staatsbürger, die Kolonisierten nur eine mindere Form. Die Nachwirkungen sind in Frankreich bis heute in Parolen der extremen Rechten präsent.

"Was soll ich noch in der Welt?"

Ein Tiefpunkt in der Entwicklung des Staatsbürgerrechts auf deutschem Boden markiert die Ausbürgerung politischer Gegner und Dissidenten - nicht nur durch den NS-Staat, sondern auch durch die DDR. Wolf Biermann erinnert sich im Interview mit dem Ausstellungskurator an seine Gefühle bei seiner Ausbürgerung 1976: "Ich war am Boden zerstört. Ich dachte, mein Leben ist zuende. Ich hatte Todesangst, weil ich dachte: Was soll ich noch in der Welt, wenn ich nicht zurückkann, zu meinen vertrauten Freunden, aber auch die vertrauten Feinde, wenn die mir abhanden kommen."

Neue nationale Abschottung in der Pandemie

Nicht zuletzt thematisiert die Ausstellung die Relevanz von Staatsbürgerschaft in gegenwärtigen Konflikten wie der Aufnahme und Einbürgerung von Migranten oder der neuen nationalen Abschottung während der Corona-Pandemie 2020. Kurator Dieter Gosewinkel betont: "Wir erzählen in der Ausstellung keine lineare Erfolgsgeschichte. Wir zeigen vielmehr, wie gefährdet Staatsbürgerschaft als juristische Konstruktion und Form politischer Zugehörigkeit ist. Wie sehr sie immer wieder angegriffen wird unter dem Deckmantel von Unterscheidungen mit dem Ziel von Diskriminierungen und Hierarchisierung."

 

Sendung: rbb24 Inforadio, 30.06.2022, 13:55 Uhr

Beitrag von Sigrid Hoff

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