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Quelle: imago images/ Lindenthaler

Theaterpremiere am Berliner Ensemble

Die Sackgasse der Gewissheiten

Marius von Mayenburg hat ein Stück mit vielschichtigen Figuren geschrieben, das die zivilisatorischen Abgründe ausleuchtet. Oliver Reese bringt es mit einem fantastischen Ensemble als psychologisch-realistischen Krimi auf die Bühne. Von Barbara Behrendt

Es ist wie im wirklichen Leben: umso weniger man weiß, umso eindeutiger wirkt die Sachlage. Zu Beginn von "Ellen Babić" von Marius von Mayenburg am Berliner Ensemble ist völlig klar: Dieser Schuldirektor Wolfram, der sich bei der Lehrerin Astrid und ihrer Partnerin Klara auf ein Glas Wein eingeladen hat, der geht gar nicht. Wolfram will nicht nur, dass Astrid an seinen nassen Achseln schnuppert, weil er völlig fasziniert ist von seinem angeblich ausbleibenden Körpergeruch, er schnüffelt auch in ihrer Wohnung herum und stellt hohe Qualitätsansprüche an ihren Wein.

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Die Sympathien liegen also eindeutig bei Astrid, und nicht beim älteren, selbstzentrierten Mann, der am längeren Hebel sitzt. Man mag Astrid, obwohl sie mit ihrer einstigen Schülerin zusammenlebt – was an der Schule besser niemand erfahren soll.

Was ist auf der Klassenfahrt tatsächlich mit Ellen Babić geschehen?

Bis Wolfram Astrid dann mit den Vorwürfen der Schülerin Ellen Babić konfrontiert: der Titelfigur, die, das ist der Kniff, nie auftritt. Es geht um einen Vorfall auf der Klassenfahrt nach Trier. Das Mädchen, an das sich Astrid eben kaum noch erinnert haben will, hat sich nach einem Besäufnis übergeben und, das gibt Astrid viel zu spät zu, im Zimmer ihrer Lehrerin übernachtet. Was in dieser Nacht tatsächlich geschehen ist, dabei steht bald Aussage gegen Aussage.

Als Wolfram herausfindet, dass Klara ebenfalls Astrids Schülerin war – und sie sich ausgerechnet bei der Klassenfahrt nach Trier nähergekommen sind, stehen nicht nur für Klara, sehr flirty und naiv gespielt von Lili Epply, alle Gewissheiten infrage. Denn der Autor Marius von Mayenburg hat das Publikum dazu verleitet, bei einer Frau eine Beziehung zu tolerieren, die bei einem Mann sofort als missbräuchlich erkannt worden wäre.

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Doch gerade, als die Sympathien kippen und der Machtmissbrauch auf Astrid zeigt, nimmt der Plot eine neue Wendung. Denn auch der Direktor Wolfram benutzt Astrid für seine Zwecke. Was in diesem Netz aus Vorwürfen, Machtspielen und Abhängigkeiten tatsächlich wahr ist und was Gerücht, Vorurteil, Homophobie und Rassismus, das setzt sich mit jedem Plot-Twist neu zusammen.

Bettina Hoppe und Tilo Nest spielen elektrisierend

Wie Bettina Hoppe und Tilo Nest die Abgründe ihrer beiden Gegenspieler:innen erforschen, das ist elektrisierend. Hoppe gibt Astrid als passionierte Lehrerin und Sympathieträgerin, die jedoch mit jeder Lüge schwerer einschätzbar wird. Nest lässt seinen Schuldirektor zwischen ignorantem Patriarchen und gutmütigem Schluffi beinahe komödiantisch changieren.

Nach Jahren hat Mayenburg endlich einmal wieder ein Kammerspiel vorgelegt, das vielschichtige Figuren entwirft und in ungeheuer schnellen, lebensechten Dialogen Spannung erzeugt wie im Krimi. Ein Glück, dass er es nicht wieder selbst inszeniert und dabei ins Groteske übersteigert hat – in Oliver Reeses zurückgenommener Regie darf das Ensemble gekonnt psychologischen Realismus spielen und sich auf einem Wohnzimmer-Quadrat dicht umkreisen. Diese kleine, schwarze Spielfläche ist ein wenig tiefer gelegen, als hätte sich der Boden unter den Figuren bereits aufgetan.

Man darf nur nicht dem Trugschluss aufsitzen, den das Stück leider auch nahelegt: dass Missbrauch im Auge des Betrachtenden liegt. Das ist falsch. Er kommt nur nicht immer ausschließlich dort vor, wo wir ihn erwarten.

Sendung: rbb24 Inforadio, 25.02.2024, 9 Uhr

Beitrag von Barbara Behrendt

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