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Analyse

Kommen die Lockerungen der Corona-Maßnahmen zu früh?

Kein Oberlimit für Treffen von Geimpften und Genesenen, das Ende von 2G im Handel, Clubs werden geöffnet – die MPK hat eine Menge Lockerungen beschlossen. Doch was spricht für und gegen den neuen Kurs? Ein Überblick von Haluka Maier-Borst

Sagen wir eins vorab: es ist kompliziert. Erst Ende November stufte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) Omikron als "besorgniserregende Variante" ein. Noch Anfang Januar sagten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler weltweit: Wie schlimm es wird, können wir nicht abschätzen [sciencemag.com]. Entsprechend schwierig ist es auch heute noch, zu beurteilen, was die nun beschlossenen Lockerungen bedeuten.

rbb|24 versucht entsprechend vorsichtig und so objektiv wie möglich einzuordnen, was für und gegen den Kurs der nächsten Wochen spricht.

Contra: Die schlechte Datenlage

Es gibt eine Menge Fragezeichen. Durch das mehrfache Umstellen des Testverfahrens ist schwer zu beurteilen, wo die aktuelle Inzidenz wirklich liegt. Auch bei dem Indikator der Hospitalisierungen gibt es erhebliche Meldeverzüge, worauf auch rbb|24 mehrfach hinwies. Entsprechend schwierig ist es zu beurteilen, wo genau das Infektionsgeschehen steht. So sagt zum Beispiel Nina Beikert vom Verband der akkreditierten Labore in der Medizin(ALM) [alm-ev.de]:

"Der leichte Rückgang an Testaufkommen stimmt uns zwar als erster Hinweis auf ein rückläufiges Infektionsgeschehen positiv, aber noch besteht aus Sicht der Labore weiterhin Anlass zur Vorsicht und Umsicht. Die Spitze der Omikron-Welle ist in einigen Bundesländern noch immer nicht erreicht."

Hinzu kommt, dass die RKI-Statistiken weiterhin nicht genau ausweisen, ob Patientinnen und Patienten mit oder wegen Omikron Menschen ins Krankenhaus müssen. Und das ist ein Problem, wie zum Beispiel Helmut Küchenhoff, Statistiker an der Universität München anmerkt. Er will aber auch eins klar stellen. "Hospitalisierungen mit aber nicht wegen Corona" seien eben keine "falschen Hospitalisierungen in der Statistik."

"Gerade bei älteren Patienten kann das zum Beispiel heißen, dass es erst eine Lungenentzündung gab oder die Menschen nach einer Chemo in Behandlung sind und sie also nicht primär wegen Corona im Krankenhaus sind. Aber wenn sie sich dann infizieren, trifft sie Corona besonders hart. Das heißt also keineswegs, dass sind Fälle bei denen Corona nur eine Art Beifang in der Statistik ist und das nie ein Problem ist." Trotzdem wäre diese Unterscheidung eben wichtig, um die Lage besser zu beurteilen.

Pro: Modelle deuten auf eine Entspannung hin

Trotz aller Probleme mit den Daten – Küchenhoff sieht Grund für Optimismus: "Man muss sicherlich vorsichtig bei der Interpretation der Krankenhausdaten sein, damit nicht der Wunsch Vater des Gedanken ist. Aber: Wir sehen in einigen Bundesländern Rückgänge bei den Hospitalisierungen oder dass es stagniert. Und auch dass eben tendenziell mehr Menschen nicht primär wegen Covid sondern mit Covid eingeliefert wurden."

Er und seine Kolleginnen zeigten zum Beispiel [uni-muenchen.de], dass in ersten Regionen die Zahl der Hospitalisierungen wohl inzwischen tatsächlich zurückgehen. Eine aktualisierte Form dieser Analyse, die rbb|24 vorliegt, bestätigt diese positive Tendenz. Und auch ein Modell des RKI [rki.de], das Anfang Februar veröffentlicht wurde, legte nahe, dass ab etwa Mitte bis Ende Februar das Schlimmste durchgestanden sein könnte.

Contra: Die Lage ist immer noch instabil

Genau dasselbe Modell des RKIs legt aber auch nahe, wie instabil die Lage ist und das sehr wohl die Zahl der Hospitalisierungen noch einmal weit hochschießen kann. Die beiden entscheidenden Faktoren dabei: die Zahl der Kontakte und die sogenannte Generationszeit.

Der erste Faktor ist schnell einleuchtend: mehr Kontakte heißt auch mehr Chancen sich anzustecken. Heißt: die Zahlen wachsen schneller. Der zweite Faktor sind aber auch die Übertragungseigenschaften des Virus und diese sind nicht nur abhängig vom Virus selbst. Die Frage ist nicht nur, ob womöglich die Subvariante BA.2 von Omikron nochmal ansteckender ist, sondern zum Beispiel auch: Isolieren wir weniger effektiv Infizierte, weil wir mehr auf Antigen-Tests setzen und weniger Fälle nachverfolgen?

Auf die Frage, ob die Kombination aus vielen Lockerungen gleichzeitig und weiterhin weniger effektiver Test- und Isolationsstrategie die Lage nochmal verschärfen könnte, antworteten Forscher des RKIs vor zwei Wochen: "Das kann durchaus nochmal die Situation verändern und einen höheren Peak auslösen."

Pro: Mehr Lockerungen führen auch zu mehr Willen, noch bestehende Regeln einzuhalten

Jede Maßnahme muss einen Sinn haben. Das klingt wie ein Allgemeinplatz und ist rein rechtlich gesehen schon die oberste Prämisse. Aber auch psychologisch ist es wichtig, in der Tendenz Maßnahmen genauso schnell einzuführen wie abzuschaffen, wie zum Beispiel der Schweizer Epidemiologe Marcel Salathé gegenüber dem Magazin "Republik" erklärt [republik.ch].

Wenn nämlich Maßnahmen beliebig wirken, würden zunehmend Menschen auch sinnvolle Regeln missachten. Und nicht zuletzt bestünde die Gefahr, dass bei neueren Wellen man gar nicht mehr die Menschen überzeugt bekommt. Das hatten auch Ende 2020 schon einige Experten gegenüber rbb|24 angesprochen und konkret vor allem auf die fragliche Maskenpflicht im Freien verwiesen.

Auch Küchenhoff sieht es angesichts der schwierigen aber sich doch bessernden Lage als geboten an, zu lockern. Er plädiert dafür sich dabei zu überlegen, wo welche gefährdeten Altersgruppen unterwegs sind. "Überspitzt gesagt, in Clubs können die jungen Menschen ohne Maske von mir aus feiern. Bei Altersheimen machen meiner Ansicht weiter Masken Sinn."

Contra: Immer noch ist der Immunschutz in der Bevölkerung löchrig

Immer wieder wird auf die skandinavischen Länder verwiesen, wenn es um die Lockerungen geht. Wahr ist aber auch: dort liegen die Impfquoten oft bei über 80 Prozent. Denn ja, Omikron sorgt wohl für weniger schwere Verläufe. Der entscheidende Faktor sind und bleiben aber Grundimmunisierungen plus Booster, wie eine Grafik des Datenjournalisten John Burn-Murdoch anschaulich zeigt [twitter.com]-

Auch taugt Omikron als natürliche Immunisierung eher mäßig. So zeigte eine Studie von Wissenschaftlern und Wissenschafterinnen aus verschiedenen afrikanischen Staaten, dass eine durchgestandene Omikron-Infektion nur dann wirklich vor anderen Varianten schützt, wenn die Person auch geimpft wurde [medrxiv.org.]. Überhaupt zeigt sich, dass die Immunantwort bei Geimpften in den allermeisten Fällen breit recht hoch ausfällt. Bei Nur-Infizierten hingegen sind die Szenarien quer über die Bandbreite verteilt [researchsquare.com]. Während einige wenige sogar mehr Antikörper aufwiesen als Geimpfte, hatten auch viele selbst nach durchstandener Infektion weiterhin kaum Antikörper. Entsprechend sind und bleiben die Ungeimpften und ihre hohe Zahl in Deutschland ein Problem.

Pro: Alle gesunden Erwachsenen hatten die Chance auf eine Impfung. Und es gibt Medikamente

Inzwischen ist über die Hälfte der Bevölkerung geboostert. Und die Tatsache, dass zwar die Infektionszahlen in dieser Welle höher sind als je zuvor aber zugleich die Hospitalisierungen sich in Grenzen halten, ist eine unglaubliche Errungenschaft. Infektionen und schwere Verläufe haben sich entkoppelt, so wie es sich auch in Dänemark und Großbritannien zeigt.

Das geht inzwischen sogar so weit, dass in den jüngeren Altersgruppen tatsächlich die Infektionssterblichkeit vergleichbar mit der Grippe ist. Und für diejenigen, die immungeschwächt sind und bei denen die Impfung nicht funktioniert oder keine Option ist, gibt es erste Medikamente gegen die Erkrankung, die besonders vulnerable Menschen schützen können [newscientist.com]. Entsprechend erscheint es nur richtig zu lockern, mehr Normalität zu erlauben.

Contra: Und was ist mit den Kindern?

Während Erwachsene sich jetzt seit etwa gut einem Jahr impfen lassen konnten, ist diese Dauer für Kinder viel kürzer. Und ja, in der Regel haben sie auch ungeimpft mildere Verläufe und das sogar nochmals eher bei Omikron [newscientist.com].

Trotzdem ist es aber geradezu absurd, dass Infektionen willentlich in Kauf genommen werden. Viele Eltern waren skeptisch gegenüber möglichen Langzeitfolgen der Impfung, die es nach allem in der Forschung bekanntem Wissen nicht gibt. Auf der anderen Seite gibt es auf jeden Fall die Möglichkeit, dass Spätfolgen nach einer Infektion auftauchen, wie mehrere Forscherinnen und Forscher betonen – und damit auch bei Kindern. Die Experten verweisen dabei zum Beispiel auf den Umstand, dass im Durchschnitt 7 Jahre nach einer Masern­erkrankung noch eine Hirnentzündung namens SSPE auftreten kann [republik.ch].

Speziell in den Schulen die Maßnahmen abzuschaffen, birgt also entsprechende Risiken.

Was bleibt?

Wir sind müde. Alle. Dass man jetzt erste Öffnungsschritte macht, erscheint richtig. Aber dass man vorsichtiger als andere Länder ist, auch. Und dass die Pandemie vorbei ist, ist längst nicht sicher.

Wir werden sehen müssen, was in den nächsten Wochen passiert. Und selbst wenn der beste Fall eintritt und wirklich die Lage beherrschbar bleiben, sollte allen bewusst sein, dass sich wenige in der Politik mit Ruhm bekleckert haben. Dass trotzdem Pflegekräfte ausgebrannt wurden. Dass frühere Wellen vermeidbare Opfer gefordert haben. Dass uns vorm Chaos in den Krankenhäusern letztlich nicht eine erfolgreiche Impfkampagne bewahrt hat, kein ausgebautes Testsystem oder die Digitalisierung in den Gesundheitsämtern. Sondern am Ende eine Laune des Virus, nämlich deutlich milder zu werden, ein Umstand, der uns nun eine Verschnaufpause gibt.

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