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Quelle: dpa/S. Ziese/ARD

Tag der Deutschen Einheit

Was die Bundestagswahl über den Stand der Einheit aussagt

Der Tag der Deutschen Einheit fällt auf den ersten Sonntag nach der Bundestagswahl. Bei der die Wahlergebnisse wenig Einheit zu zeigen scheinen. Dennoch ist es falsch, ein einfaches Ost-West-Schema über das Wählervotum zu legen. Von Thomas Bittner

Es stimmt: Die politische Landkarte lässt die Konturen der DDR aufschimmern, wenn die Stimmanteile von AfD und Linken farblich markiert werden. Im Westen Deutschlands kommt die AfD auf 8,2 Prozent, in Ostdeutschland auf 18,9 Prozent. Die Linken sind zumindest noch zweistellig im Osten, im Westen sind sie mit 3,6 Prozent weit von der 5-Prozent-Hürde entfernt. Aber nicht alles lässt sich in Ost-West-Kategorien abbilden.

Schon beim Blick auf die SPD-Ergebnisse wird ein Nord-Süd-Gefälle deutlich, das sich durch ganz Deutschland zieht. Selbst der Osten Deutschlands ist heute geteilt, in einen Norden mit sozialdemokratischer Dominanz und einen Süden, in dem die AfD vorn liegt. Die AfD "hatte vor allem dort große Chancen, wo die sonst dominierende Partei schwächelte. In Sachsen ist das die CDU, in Thüringen die Linke." So beschreibt es die SPD-Vize-Chefin Klara Geywitz aus Brandenburg in der Zeit.

Sie spricht schon länger von einer Zweiteilung des Ostens. Der Verlust an Industriearbeitsplätzen sei in Sachsen deutlich prägender gewesen als im weniger industrialisierten Brandenburg etwa. Im Nordosten kommt die AfD auf etwa 18, im Südosten auf 24 Prozent. Einheitlich hat der Osten hier nicht abgestimmt.

Bundestagswahl

Wo Berlin exakt so wählt, wie der Rest des Landes - und wo vollkommen anders

Reinickendorf, ein Abbild der Nation - zumindest mit Blick auf die Bundestagswahl. In keinem anderen Wahlkreis lagen die Wähler so dicht am Endergebnis. Wenige Kilometer entfernt wurde hingegen so eigen gewählt wie nirgends sonst.

Eine Kampfansage an die Zivilgesellschaft

Die Eroberung der Wahlkreise in Sachsen und Thüringen durch die AfD, auch die Zweitplatzierung der Deutsch-Alternativen vor den Christdemokraten in Brandenburg, sind eine Kampfansage an die Zivilgesellschaft. Niemand sollte sich an den Zustand gewöhnen, dass sich ein Fünftel der Wählenden von demokratischen Parteien abwendet. Nicht aus Protest, sondern aus Überzeugung. Sich dieser Herausforderung zu stellen, muss eine Aufgabe aller werden, ohne Ost-West-Zurechtweisung.

Und überhaupt: Die Fixierung auf die überdurchschnittlichen Erfolge von AfD und (weit dahinter) der Linken verstellen den Blick auf die übergroße Mehrheit der Ostdeutschen. Denn über 70 Prozent haben weder AfD noch die Linke gewählt. Deren Anliegen müssen in den Fokus gerückt werden. Der Schlüssel für viele Problemlösungen liegt auch nicht immer im Osten. Dass der Wohlstand in Deutschland nicht gerecht verteilt ist, meinen hier 82 Prozent, im Westen 75 Prozent.

Was erwarten die Wählerinnen und Wähler in den nicht mehr ganz so neuen Ländern? Eine Rentenangleichung, auf die die Menschen seit Jahrzehnten warten. Ein höherer Mindestlohn, von dem im Osten mehr als ein Drittel, im Westen nur ein Viertel profitieren würde. Mehr Institutionen mit Gewicht im Osten. Eine höhere Präsenz Ostdeutscher in wahrnehmbaren Spitzenpositionen. Mehr Mittel für Forschung und Entwicklung in den neuen Ländern. All das kommt nicht, wenn nicht auch Veränderungen im Westen akzeptiert werden.

Viele neue Gesichter

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Einen Abgeordneten mehr als bisher schickt Berlin nun in den Bundestag. Elf Parlamentarier schieden aus, zwölf sind neu im Parlament vertreten – darunter auch der noch Regierende Bürgermeister Michael Müller sowie Ex-Juso-Chef Kevin Kühnert.

Die Wählerschaft im Osten sucht Stabilität und Ruhe

Dass man den Transformationserfahrungen der Ostdeutschen aus der Nachwendezeit mit Respekt begegnen sollte, hört man oft. Das klingt dann manchmal sehr mitleidig. Zum Respekt gehört mehr: Die Erfahrungen des Ostens sollten als Wert gesehen werden, den alle nutzen können. Denn in gewisser Weise ist Ostdeutschland auch ein Labor für vieles, was später auf ganz Deutschland zukommt.

Traditionelle Bindung an Parteien konnte es vor 30 Jahren im Osten gar nicht geben. Auf so etwas wie Stammwählerschaft kann sich hier seit der Wende keine Partei verlassen. Die Wählenden wechseln munter von Partei zu Partei. Jetzt bröckeln die Wählerschaften auch im Westen. Der Absturz der CDU mag im Westen Deutschlands ein großer Einschnitt sein, der Osten aber kennt das.

Die Wählerschaft im Osten ist deutlich älter als im Westen. Sie sucht Stabilität und Ruhe, will nicht wieder alles umkrempeln und neu anfangen. Die Bereitschaft, ein "Weiter so" zu akzeptieren, möglichst mit mehr sozialer Absicherung, ist hier größer. Die Grünen kamen in Westdeutschland auf über 15 Prozent, in Brandenburg landeten sie noch hinter der FDP bei neun Prozent. Im Westen war für jeden Vierten Umwelt und Klima die wahlentscheidenden Themen, im Osten nur für jeden Sechsten.

Die erste Ampelkoalition in Deutschland

Und nicht zuletzt: Wahlergebnisse in den ostdeutschen Bundesländern zwangen die Parteien nicht selten zu mehr Experimentierfreudigkeit als im Westen. Erfahrungen mit Dreierkoalitionen haben in jüngster Vergangenheit vor allem Ostdeutsche gemacht. Vieles ist möglich: Kenia, mal angeführt von SPD, mal von CDU. Rot-Grün mit Tolerierung oder gleich als R2G. Und die erste deutsche Ampelkoalition gab es in Potsdam, im ersten Landtag nach 1990. Statt sich mit der CDU zu verbünden, setzte Manfred Stolpe und die SPD auf FDP und Bündnis 90. Dieses Dreierbündnis musste Anfang der 90er Jahre Grundsätzliches für das neue Bundesland regeln. Und war dabei nicht gänzlich erfolglos.

Es gibt durchaus etwas zu lernen aus den Erfahrungen des Ostens. Auch für den Norden, Süden und Westen. So kann Einheit funktionieren.

Beitrag von Thomas Bittner

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