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Audio: rbb24 Inforadio | 21.05.2023 | Jakob Rüger | Quelle: imago images/Matthias Koch

Hertha BSC unter Zeitdruck

Nur 70 Tage für den harten Weg in die Zweitliga-Realität

Was sich lange andeutete, ist nun Gewissheit: Hertha BSC muss den Gang in die 2. Liga antreten. Die Berliner stehen vor mehreren Fragezeichen was Kader, Trainerpersonalie und Wirtschaftlichkeit angeht - und die Zeit rennt. Von Marc Schwitzky

Das Wochenende vom 28. bis 30. Juli hat für Hertha BSC von einem Tag auf den anderen immens an Bedeutung gewonnen, weil es das Ende einer Frist markiert. Für jenes Wochenende hat die DFL den ersten Spieltag der neuen Zweitliga-Saison terminiert. Bis dahin - in knapp 70 Tagen - muss Hertha etliche Fragen beantworten und ein stabiles Fundament für die neue Spielzeit, ja womöglich sogar den direkten Wiederaufstieg legen. Und das in einem Umfeld, in dem Unterklassigkeit für die "alte Dame" wieder spürbare Realität ist.

"Wilde Jahre in Westend"

Was schon erreicht ist - und wo es hakt

Mit Präsident Kay Bernstein, Geschäftsführer Thomas Herrich, Sportdirektor Benjamin Weber und Direktor Akademie und Lizenzspielerbereich Andreas "Zecke" Neuendorf hat Hertha vor Monaten - zumindest in weiten Teilen der Führungsetage - schonmal für klare Verhältnisse und Perspektive gesorgt. Die Trennung von Fredi Bobic Ende Januar durfte als deutlicher Fingerzeig interpretiert werden, dass der Hauptstadtklub ab jenem Zeitpunkt zweigleisig für Liga eins und zwei plante.

Weniger klar ist, ob Hertha von der DFL überhaupt die Lizenz für die 2. Liga erhalten wird. Geschäftsführer Herrich hatte auf der der jüngsten Mitgliederversammlung bestätigt, dass die Lizenz in Gefahr sein könnte. Laut Medienberichten soll die DFL ernsthafte Zweifel an der Liquidität des Vereins haben. Ebenso wie an der Einhaltung der 50+1-Regelung im Vertrag zwischen Hertha BSC und Investor 777 Partners. Jener Vorschrift, die verhindern soll, dass Investoren eine Stimmmehrheit bei den Kapitalgesellschaften bekommen, in die viele Fußballklubs - wie auch die Berliner - ihre Profiabteilungen ausgegliedert haben. "Wir sind mit Hochdruck dran und zuversichtlich, dass wir die Lizenz erhalten werden", so Herrich. Bis zum 7. Juni hat der Klub Zeit. Dann muss das Verfahren abgeschlossen sein.

Personalkosten sparen, Transfererlöse erzielen

Sollte Hertha gegenüber der DFL nachweisen können, dass die Vereinbarung mit Geldgeber 777 komplett konform mit 50+1-Regel ist, würden die 100 Millionen Euro des US-Unternehmens wie geplant fließen und die Finanzierung der Saison 2023/24 sicherstellen. Ein Zwangsabstieg in die dritte oder gar die Regionalliga als Schreckensszenario wäre somit abgewendet. Über jene Hürde hinaus wird Hertha weiterhin im großen Stile Personalkosten einsparen und Transfererlöse erzielen müssen, um die wirtschaftlichen Vorgaben zu erfüllen. Rund ein Drittel der Mitarbeitenden auf der Geschäftsstelle wird wohl gehen müssen.

Sollte Hertha den Konflikt mit der DFL lösen können, werden sich bis dahin überaus viele Prozesse im sportlichen Bereich angestaut haben. Es bleibt also noch weniger Zeit für Sportdirektor Weber und sein Team, die Weichen für die neue Spielzeit zu stellen. Der größte Umbruch seit langer Zeit steht an - und das will bei Hertha etwas heißen. Die Hanns-Braun-Straße ist schon lange Großbaustelle, nun muss gleich ein komplett neues Fundament gegossen werden. Eine Herkulesaufgabe für Weber, der zum ersten Mal einen Transfersommer bei den Profis betreuen muss.

Chronik des Hertha-Abstiegs

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Kaderkosten müssen signifikant sinken

Wie bei einem Abstieg üblich werden viele Spieler den Verein allein aufgrund ihrer eigenen sportlichen Ambitionen verlassen wollen. Darüber hinaus wird Hertha aus wirtschaftlichen Gründen wenigen Profis Steine in den Weg legen können und wollen. "Wir wollen 30 Prozent der Kaderkosten reduzieren und dann immer noch bundesligatauglich oder - wenn es so kommt - zweitligatauglich sein", gab Herrich bei der Mitgliederversammlung als Zielvorgabe aus.

Dodi Lukebakio, Lucas Tousart, Suat Serdar sind Beispiele für Spieler, die sowohl aus finanziellen als auch sportlichen Aspekten heraus nicht zu halten sein werden. Immerhin besitzen sämtliche Profis Verträge für die zweite Liga, sodass Hertha Ablösen erzielen kann - wenn auch nur schmerzhaft geringe.

Es haben zudem so viele Neuzugänge der jüngeren Zeit enttäuscht, dass sich Hertha abseits wirtschaftlicher Faktoren von ihnen trennen wollen wird: Wilfried Kanga, Jean-Paul Boetius oder Ivan Sunjic sind beispielhaft zu nennen. Sunjic und Chidera Ejuke werden den Klub aufgrund ihrer auslaufenden Leihverträge verlassen. Darüber hinaus laufen die Arbeitspapiere von Kevin-Prince Boateng (Karriereende), Peter Pekarik, Marvin Plattenhardt und Stevan Jovetic aus - sie werden Hertha wohl allesamt verlassen.

Der "Berliner Weg" soll mit Leben gefüllt werden

Abstiege sind oftmals mit der Hoffnung auf eine "reinigende" Wirkung verbunden: die Chance, sich von Altlasten zu trennen und neu anzufangen. Ob jene Reinigung tatsächlich so von statten geht, ist fraglich, doch wie der Neuanfang aussehen kann, skizzieren die Verantwortlichen von Hertha bereits seit längerem: Der "Berliner Weg" soll die mittel- bis langfristige Planung auf sportlicher Ebene sein.

Hertha will wieder mehr auf eigene Talente setzen und die renommierte Akademie in den Mittelpunkt rücken. Darüber hinaus soll bei externen Transfers wieder vermehrt darauf geachtet werden, dass die Spieler für die Aufgabe "brennen" und Hertha als Chance und nicht als gemütliche Endstation betrachten. "Es geht um den Willen, sich zu verbessern. Und wenn man Spieler kauft, schadet es nicht, wenn neben dem Namen noch steht: Phantasie und Entwicklungspotenzial", erklärte Trainer Pal Dardai.

Die Neusortierung innerhalb des Kaders soll die Eigengewächse stärken. Marton Dardai, Jessic Ngankam und Derry Scherhant haben sich bereits bei den Profis etabliert und sollen zusammen mit Talenten wie Linus Gechter, Pascal Klemens, Julian Eitschberger, Veit Stange oder Neu-Profi Ibrahim Maza das Gerüst für die Zukunft bilden. Die zweite Liga als etwas niveauschwächeres Pflaster könnte die Integrierung der Talente vereinfachen. Daneben wird Hertha Spieler wie Oliver Christensen, Tolga Cigerci oder Marco Richter, die sich als Nicht-Berliner dennoch mit dem Verein identifizieren, halten und entwicklungshungrige wie mental starke Spieler für einen guten Mix verpflichten müssen.

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Hertha muss die Trainerfrage klären - bleibt Dardai?

Maßgeblich entscheidend für die Kadergestaltung ist die Trainerpersonalie. Bleibt Pal Dardai, der Mitte April für Sandro Schwarz übernommen hatte, an der Seitenlinie oder entscheidet sich Hertha für einen neuen Weg?

Für Dardai sprechen gleich mehrere Punkte. Aufgrund des Abstiegs wird großer medial-öffentlicher Druck auf Hertha liegen. Druck, den Dardai seit jeher kennt und mit seiner besonderen Art gut moderieren kann. Zudem steht kaum ein Zweiter so sehr für den angestrebten "Berliner Weg" wie Dardai. Er kennt den Verein und seine Jugend bestens, schon immer hat der Ungar den Eigengewächsen viel Vertrauen und Einsatzzeiten entgegengebracht. Dardai hat zudem bewiesen, mit genügend Zeit Mannschaften mit einer guten Struktur und starkem Teamgeist entwickeln zu können - genau das, was Hertha nun braucht. Fraglich ist, wie der eher defensiv geprägte Spielstil Dardais mit der Favoritenrolle in Liga zwei zusammenpassen würde.

70 Tage sind wenig Zeit, besonders für einen neuen Trainer. Dardai kennt Stadt, Verein und den aktuellen Kader, sodass er sofort ansetzen könnte - ein großer Vorteil. Sportdirektor Weber lässt die Trainerfrage noch offen. Und auch Dardai lässt sich nicht in die Karten schauen: "Ich glaube, das muss die Führung entscheiden - und meine Frau." Frau Monika hatte Ehemann Pal bereits im April den Job erlaubt. Schön, wenn sich in diesen chaotischen Zeiten nicht alles ändern würde.

Sendung: rbb24, 21.05.2023, 18 Uhr

Beitrag von Marc Schwitzky

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