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Quelle: dpa-Symbolbild/Monika Skolimowska

Kinder und Kultur in der Corona-Pandemie

"Warum mit der anderen Hälfte der Schüler nicht ins Museum?"

Im Chor singen, zur Kunstschule gehen, eine Theater-AG besuchen - für Kinder und Jugendliche ist all das seit Monaten nur eingeschränkt oder gar nicht möglich. Dabei sind Kulturerlebnisse für Schüler gerade in der Pandemie besonders wichtig. Von Hans Ackermann

"Ich vermisse vor allem Theater und Kino", sagt Tilman. Pünktlich hat sich der 15 Jahre alte Schüler zu einer Videokonferenz eingefunden, auch Anton, Paul und Antonia haben die Einladung zum Gespräch über die Frage "Welche Kulturerlebnisse vermisst ihr im Lockdown?" angenommen.

Die vier sitzen zuhause in ihren Zimmern vor dem Computerbildschirm, ausgestattet mit Kopfhörern und Mikrofon - das Headset hat sich in den letzten Wochen zur Grundausstattung für Home-Schooling und Kommunikation per Internet entwickelt.

Keine Proben mit der Schülerband

Vor dem Lockdown, erzählt die 14 Jahre alte Antonia, habe sie mit ihren Eltern oft Freizeitaktivitäten und Kulturerlebnisse kombiniert: "Wir haben fast jedes Wochenende einen Ausflug gemacht, manchmal auch in ein Museum." Das sei "ziemlich interessant" gewesen, momentan aber könne man nur spazieren gehen, "und das ist auf die Dauer ziemlich langweilig."

Antonia und die drei Jungen gehen in die 9. Klasse des Händel-Musikgymnasiums in Berlin-Friedrichshain. Anton singt dort im Schulchor, Paul spielt Bratsche im Orchester. Beide zusammen haben vor der Pandemie auch eine Schülerband gegründet. "Ich vermisse die gemeinsamen Band-Proben mit meinen Freunden", sagt Anton. "Wir sind ja gerade dabei, unseren ersten kleinen Song zu machen", fügt Gitarrist Paul hinzu. "Zusammen geht das viel schneller, so etwas zu produzieren." Einige Stunden nach der Videokonferenz wird Paul dann noch eine Aufnahme schicken - Deep Purples "Smoke on the water", den alten Hardrock-Klassiker, den die Schülerband perfekt einstudiert hat.

Heraus aus der Ohnmacht

Musik machen, Tanzen, Theaterspielen - Kinder und Jugendliche brauchen solche Kulturerlebnisse in der Pandemie ganz besonders, sagt die Berliner Bildungsforscherin Kerstin Hübner. Die kulturelle Aktivität würde als "emotionales Ventil" auch den Umgang mit der eigenen Gefühlswelt ermöglichen. Wer jemals die befreiende Wirkung einer gemeinsamen Chorprobe erlebt hat, wird der Theater- und Medienwissenschaftlerin uneingeschränkt zustimmen. "Die Kinder kommen dadurch aus der Ohnmachts-Situation, in die Corona sie gebracht hat, heraus und gelangen in eine aktive Situation. Singen wirkt ausgleichend und beim Theaterspielen kann ich all das zum Ausdruck bringen kann, was mich gerade beschäftigt."

Hübner leitet die Abteilung "Kooperation - Bildung - Innovation" bei der in Berlin und im nordrhein-westfälischen Remscheid ansässigen Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung. Der Verein, in dem rund 60 Verbände und Institute aus dem Bereich der kulturellen Kinder- und Jugendbildung zusammengeschlossen sind, hat schon nach dem ersten Lockdown ein Diskussionspapier formuliert. Demzufolge werden die Auswirkungen der Corona-Krise auf die junge Generation langfristig wirken, man rechne "mit erheblichen Problemen an der Schnittstelle zwischen Bildungs-, Jugend- und Kulturarbeit."

Diskussionspapier

BKJ - Verband für Kulturelle Bildung

Kulturelle Bildung an und mit Schulen - Jetzt erst recht!

Kulturelle Spielräume schaffen

Dabei brauchen Kinder und Jugendliche für ihre kulturelle Entfaltung eigentlich nur Spielraum, sagt Kerstin Hübner, die diese Forderung ganz wörtlich meint. "Wenn sich die Schule im Wechselunterricht nur um die eine Hälfte der Schülerinnen kümmern kann, warum können sich nicht andere Einrichtungen mit ihren Hygienekonzepten um die andere Hälfte der Schüler und Schülerinnen kümmern und Erfahrungsräume öffnen?" Theater, Museen, Opern- und Konzerthäuser böten für die kulturelle Bildungsarbeit beste Voraussetzungen, meint Hübner: "Der Vorteil solcher Kultureinrichtungen ist, dass sie oft große Räume haben. Dadurch können die Gruppen dort in halber Klassenstärke hinkommen und sind nicht eingeschränkt, weil vielleicht die Räume zu klein sind."

In solchen realen Räumen wieder reale Kultur erleben - diese Forderung richtet sich keinesfalls gegen den "digitalen Raum" mit all seinen Möglichkeiten, sagt Hübner. "Aber wir brauchen wieder Zugänge zu umfangreichen Erfahrungsräumen. Wir brauchen wieder Kinder und Jugendliche vor realen Bildern, die in Museen hängen. Wir brauchen die Arbeit in den Jugendkunstschulen und eben nicht ausschließlich das Digitale."

Zusammen mit dem schulischen Lernen würden kulturelle Bildungserfahrungen am Ende ein erweitertes Verständnis der Welt ermöglichen: "Wir müssen uns über Sinne auseinandersetzen, wir müssen uns über Bilder auseinandersetzen, wir müssen uns über Klänge auseinandersetzen. Das heißt, um uns in dieser Welt zurechtzufinden, um sie zu begreifen und uns darin zu positionieren, benötigen wir bestimmte Erfahrungen. Und genau dafür bieten kulturelle Erfahrungen wichtige Zugänge."

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Neue kulturelle Verhaltensweisen

Ob Kinder und Jugendliche durch die Pandemie und die damit verbundene Vereinzelung automatisch in eine zunehmende "Bildschirm-Abhängigkeit" geraten - diese Diskussion muss natürlich geführt werden, meint auch Kerstin Hübner. Tatsächlich habe sich in der Pandemie aber abseits der Bildschirme auch vielfach ein neues Verhalten entwickelt: "Manche Jugendliche haben angefangen zu schreiben, um ihre Erfahrungen schreibend zu verarbeiten. Auch das Musikhören hat deutlich zugenommen. Es gibt also schon noch Wege, mit Kultur in Bewegung zu bleiben. Möglichkeiten, die Kinder viel kreativer nutzen, als wir Erwachsenen uns das vorstellen können. Aber wir plädieren dafür, dass irgendwann auch wieder der Weg zurück in den Präsenz-Raum erfolgen muss."

Die vier Schülerinnen und Schüler bestätigen in der Videokonferenz, dass sie tatsächlich mehr lesen und intensiver Musik hören als vor dem Lockdown. Antonia hat in den letzten Wochen sogar noch eine andere Kulturtechnik wiederentdeckt: "Ich male viel mehr, habe mir neue Stifte gekauft und bin kreativer geworden." Sie spiele zu Hause auch viel mehr Klavier und Gitarre als früher, erzählt die Schülerin.

Paul hat digitalen Klavierunterricht - der aber am Bildschirm nicht annähernd so viel Spass mache. Mit seiner Bratsche möchte er gern endlich wieder im Ensemble mitspielen. "Ich vermisse das Orchester, denn mit ganz vielen Leuten Musik machen, macht einfach auch ganz viel Spaß. Das geht aber nicht in dieser Zeit. Man kann zwar alles irgendwie digital machen, aber das ist nicht wie im echten Leben."

Sein Freund Anton würde gerne wieder Livemusik erleben. "Konzerte online, das ist absolut nicht das gleiche. Wenn man allein zu Hause vor dem Bildschirm sitzt oder sich mit der Familie irgendwelche Konzerte anguckt, die live übertragen werden, hat das nicht die gleiche Magie."

Digitale Chorprobe

Der Schulchor, in dem auch Antonia am Händel-Gymnasium singt, probt derzeit immerhin einmal pro Woche digital. Auf dem Bildschirm kann der Chorleiter Jan Olberg seine Sängerinnen und Sänger zwar sehen, aber nicht hören. Dafür ist die sogenannte "Latenz" einfach zu groß, also die Internetverbindung zu langsam. Deshalb schalten die Schülerinnen und Schüler ihre Mikrofone für den Lehrer stumm und singen zuhause ganz für sich allein.

Für Antonia ist das an sich "ganz okay", aber auch ein bisschen seltsam: "Wenn du hier in deinem Zimmer singst, musst du automatisch auch leiser sein. Weil deine Schwester nebenan vielleicht auch gerade ein Zoom-Meeting hat. Dadurch ist man eingeschränkt, man singt leise vor sich hin und kann eben nicht alles rauslassen."

Beitrag von Hans Ackermann

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