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Video: rbb24 Brandenburg aktuell | 05.09.2022 | Katrin Neumann | Quelle: www.imago-images.de

Interview | Studie zu Corona-Aufholprogramm

"Die Kinder, die es am nötigsten haben, wurden oft nicht erreicht"

Das Milliarden-Programm "Aufholen nach Corona" soll Bildungslücken bei Kindern mindern. Eine Studie hat ausgewertet, wofür das Geld verwendet wurde. Der Studienleiter sagt im Interview, was Berlin nicht so gut gemacht hat - und Brandenburg besser.

In der Pandemie sind in den Schulen in Deutschland viele Unterrichtsstunden in Präsenz ausgefallen. Die Grundschulen waren insgesamt 64 Tage geschlossen, die Oberschulen (Sekundarstufe 1) 85 Tage. Das führte bei vielen Schülerinnen und Schülern neben psychischen Belastungen und sozialen Benachteiligungen zu erheblichen Lernrückständen. Die Bildungslücken, die durch das Homeschooling gerissen wurden, sind zum Teil riesig.

Bund und Länder starteten deshalb im vergangenen Jahr gemeinsam das Aktionsprogramm "Aufholen nach Corona für Kinder und Jugendliche" für die Jahre 2021 und 2022.

In Berlin standen rund 64 Millionen Euro zur Verfügung. Davon konnten 44 Millionen nur für das Aufholen von Lernrückständen abgerufen werden, von denen bislang 28 Millionen eingesetzt wurden. In Brandenburg umfasst das Programm knapp 69 Millionen Euro, bisher wurden erst 15 Millionen Euro davon für das Aufholen von Lernrückständen ausgegeben.

Zu den Maßnahmen gehörten unter anderem Ferien- und Wochenendschulen, spezielle Förderangebote wie Nachhilfe, lerntherapeutische Angebote oder Sprachförderung, aber auch Finanzierung zusätzlichen Personals an den Schulen.

Eine aktuelle Studie des Wissenschaftszentrums Berlin hat nun unter der Leitung von Marcel Helbig untersucht, wie effektiv die einzelnen Bundesländer das Geld für das Schließen der entstandenen Lernrückstände verwendet haben.

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rbb|24: Herr Helbig, ist das Geld aus dem Programm "Aufholen nach Corona" bei den Schülerinnen und Schülern angekommen?

Marcel Helbig: Sicherlich hat das eine oder andere Kind davon profitiert, dass es zusätzliche Mittel gegeben hat. Aber gerade jene, die es am nötigsten haben, die sozial Benachteiligten, die Kinder mit Migrationshintergrund, die hat man oftmals nicht erreicht. Man hat das ganze Geld mit der Gießkanne ausgeschüttet. Dabei hat man aber vergessen, dass es natürlich riesengroße Unterschiede zwischen der Schule gibt, die in der Villensiedlung in Zehlendorf liegt, und der Schule in der Hochhaussiedlung in Marzahn. Mittlerweile weiß man aber, dass die Kompetenzen der Kinder gerade in den benachteiligten Familien und damit auch Regionen viel stärker zurückgegangen sind.

Warum hat man diese Kinder nicht erreicht?

In vielen Bundesländern, so auch in Berlin, wurde hauptsächlich in zusätzliche Angebote nach dem Unterricht investiert, die zu wenig mit der Schule verzahnt waren. Insgesamt gab es oft die Rückmeldung, dass genau diese zusätzlichen Angebote und die externe Nachhilfe von der oberen Mittelschicht viel stärker wahrgenommen wurden. Bei Nachhilfeangeboten haben diese Eltern zuerst den Finger gehoben. Auch Kurse in den Ferien erreichten nicht unbedingt die Kinder, die die größten Lücken hatten. Eine Schulleiterin erklärte mir in einem Gespräch, warum viele Kinder mit Migrationshintergrund nicht an diesen Ferienschulen teilgenommen haben. Weil viele gleich am ersten Ferientag zu ihren Verwandten in die Türkei oder in andere Länder auf dem Balkan fahren würden. Das heißt: Die waren sechs Wochen weg und konnten gar nicht erreicht werden mit diesem Angebot.

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Was hätte man Ihrer Meinung nach anders machen sollen?

Statt auf freiwillige Angebote zu setzen, wäre es sinnvoller gewesen, das Geld zielgenau in den Schulen mit den größten Problemen einzusetzen. Für die betreffenden Kinder wäre die Teilnahme dann Pflicht gewesen. Die Angebote hätten so besser in den Schulalltag integriert werden können. Dafür hätte man jedoch zusätzliches Personal in den Schulen einsetzen müssen. Das haben aber nur ganz wenige Bundesländer versucht, darunter auch Brandenburg.

Wie ist das Programm in Berlin gelaufen?

In Berlin wurde sehr bürokratisch versucht, Honorarkräfte einzustellen. Teil der öffentlichen Ausschreibung um einzelne Honorarkräfte waren 20 Dokumente. Dies hat gerade im ersten Schulhalbjahr dazu geführt, dass nur wenige Mittel abgerufen wurden. Ganz ausgeschlossen aus dem Aufholprogramm hat man in Berlin die Beteiligung von Lehrkräften. Anders als in anderen Bundesländern hat man gesagt: Nein, die dürfen gar nicht an diesen Programmen teilnehmen. Dabei hätte man zum Beispiel Lehrkräfte in Teilzeit einsetzen können, die mehr Stunden arbeiten, oder Erzieher und Sozialarbeiter.

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Hat es Brandenburg besser gemacht?

Ja, in Brandenburg gab es zumindest eine große Säule des Programms, wo versucht wurde, das innerhalb der Schule zu lösen. Das unterscheidet Brandenburg aus meiner Sicht sehr stark von Berlin. Zum Beispiel sollten 200 zusätzliche Lehrkräfte oder sonstiges pädagogisches Personal eingestellt werden. Und bei der Verteilung des Geldes wurde geschaut, welche Schulen die größten Probleme zurückgemeldet haben. Das Ministerium hat nach dieser Rückmeldung die Mittel verteilt und versucht, strukturell Unterschiede zu machen. Es hat das Geld nicht einfach mit der Gießkanne ausgeschüttet. Allerdings wurden bis heute nur die Hälfte der geplanten Stellen besetzt.

Nun stand eine Milliarde Euro für das Aufholprogramm zu Verfügung. Wie viel Geld ist denn davon schon eingesetzt worden?

Bis ins Jahr 2021 gab es in fast allen Bundesländern einen extrem niedrigen Mittelabruf. Im März 2022 mussten die Länder dem Bund melden, wie viel Mittel sie bisher ausgegeben hatten. Und das war dann relativ aufschlussreich, wie wenig das dann doch teilweise gewesen ist. Also ganz unten standen Thüringen und Sachsen-Anhalt, wo noch so gut wie nichts abgerufen wurde.

Und das lag vor allem am fehlenden Personal?

Das fehlende Personal ist eine Krux – vor allem in den ostdeutschen Bundesländern. Woher sollten sie dieses pädagogische Personal nehmen, wenn schon vor der Pandemie viele Lehrerstellen mit Seiteneinsteigern besetzt werden mussten oder gar nicht besetzt werden konnten? Gerade der Lehrkräftemangel in Ostdeutschland ist ein Beispiel dafür, dass die Kultusministerkonferenz in der Vergangenheit ihrer Verantwortung nicht nachgekommen ist. Der demografisch bedingte Lehrkräfte-Engpass war schon vor zehn Jahren absehbar. Man hat nicht gehandelt. um dieses Problem gemeinsam zu lösen. Das ist nicht gerade Werbung für den deutschen Bildungsföderalismus.

Welche Prognose wagen Sie für diese Schülergeneration, die von diesem zweimaligen Lockdown betroffen gewesen ist?

Es gibt eine erste große Studie, die auch gezeigt hat, dass die Situation wirklich sehr bedenklich ist, was die gesunkenen Kernkompetenzen in Mathematik und Deutsch angeht. Und es gibt auch ein gewisses Risiko, dass sich diese Rückstände sogar noch vergrößern, wenn man die Kinder nicht dort abholt, wo sie eigentlich stehen. Dass die Aufholprogramme hieran etwas ändern, glaube ich nicht. Es gibt aber auch keinerlei ernsthaften Bestrebungen zu messen, ob die Lernlücken kleiner werden und die Aufholprogramme wirken.

Wäre es jetzt nicht angebracht, massiv in Aufbau von mehr Lehrern, mehr Personal zu investieren?

Also prinzipiell ist das natürlich richtig: Mehr Lehrer, mehr individuelle Förderung, mehr Investitionen – gerade auch in schulische Programme, die diese Kinder in Kleingruppen abholen – und so zu versuchen, sie auf das Niveau zu bekommen, wo man sie gerne haben will. Aber ich finde es unrealistisch in der heutigen Situation nach mehr Lehrkräften zu rufen. Die Situation bei der Lehrkräftegewinnung war nach der Wende nie so angespannt wie heute. Die Ausbildung zusätzlicher Lehrkräfte wird das Problem maximal mittelfristig lösen.

Einen interessanten Weg ist man in Niedersachsen gegangen, wo man Personal auf Minijob-Basis einstellte. Diese Mitarbeiter wurden extrem schnell gefunden und haben nichtpädagogische Aufgaben wie etwa Pausenaufsicht übernommen. So konnten sie Lehrerinnen und Lehrer entlasten, damit diese sich auf ihre Kernaufgabe konzentrieren können. Vielleicht liegt gerade in der verstärkten Einbindung solcher Kräfte – auch im geringen zeitlichen Umfang – ein möglicher Ansatz, um Personallücken bei den Lehrkräften zumindest abzumildern.

Vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Ute Barthel.

Sendung: rbb24 Abendschau, 05.09.2022, 19:30 Uhr

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