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Quelle: dpa/Kay Nietfeld

Interview | Debatte über Impfpflicht

"Unsere Freiheitsrechte sind das oberste und höchste Gut"

Der Lockdown ist zurück - zumindest teilweise - und Rufe nach einer Impfpflicht werden lauter. Doch der Medizinethiker Florian Steger warnt: Das würde an den Grundfesten der freiheitlich-demokratischen Grundordnung rütteln.

rbb|24: Herr Dr. Steger, sie haben viel zu Pandemien und zur Geschichte ihrer Bekämpfung geforscht. Wie fühlt es sich an, selbst eine mitzuerleben?

Florian Steger: Dass ich mal Zeitzeuge einer Pandemie werde, hätte ich mir im Leben nicht vorstellen können. Es übersteigt auch mein Vorstellungsvermögen als Zeitzeuge. Das wird uns alle tief prägen für unser weiteres Leben - individuell und als Kollektiv, national und international.

Das hat zu grundsätzlichen Fragen des Lebens geführt, über individuellen Schutz, über die Einschränkung von Freiheitsrechten. Ich kann verstehen, dass viele Bürgerinnen und Bürger - gerade die, die Unrechtserfahrungen erlitten haben - die Rechtmäßigkeit staatlicher Anordnungen heute hinterfragen. Ich kann das gut nachvollziehen und finde das auch grundsätzlich durchaus richtig. Die Frage ist aber, wie weit es geht. Man darf sich Argumenten nicht verschließen.

Interview | Impfpflicht in Ost und West

"Das Impfen gehörte zur DNA der DDR"

Befürworter einer Impfpflicht verweisen oft auf die Impf-Erfolge der DDR: Hier wurde ohne Wenn und Aber geimpft. Doch war das wirklich erfolgreich? Ein Interview mit dem Medizinhistoriker Malte Thiessen, der zu dieser Frage geforscht hat.

Wir haben kürzlich mit Ihrem Historikerkollegen Malte Thiessen die Impfpflicht in der DDR besprochen. Denn dieses Beispiel wird nun oft herangezogen, um mit dem Impf-Erfolg der DDR die Wirksamkeit der Impfpflicht allgemein zu begründen.

Ich denke, man muss das unterscheiden. Es gab damals in der DDR ein stärkeres Bedürfnis des Staates, zu kontrollieren und zu verordnen. Tatsächlich ist das in der frühen Bundesrepublik und in den folgenden Jahren nicht so ausgeprägt. Da kann man schnell eine Impfpflicht herauslesen.

Wir müssen aber auch generell unterscheiden: Es gibt eine moralische Impfpflicht - für die ich mich übrigens auch sehr einsetzen möchte - und eine legale. Letztere gibt es in Deutschland aktuell aber nicht. Und ich glaube auch nicht, dass es die geben wird.
Aber wer weiß, was da noch kommt.

Es gibt Menschen, die sagen heute: Die DDR habe mit Impfpflicht besser geimpft als der Westen ohne Impfpflicht.

Wissen wir das wirklich so genau? Ich glaube nicht, dass wir verlässlich eine Aussage darüber treffen können, ob der Osten oder der Westen besser geimpft hat. Ich glaube auch nicht, dass man eine verlässliche Aussage darüber treffen kann, ob die Bürgerinnen und Bürger des Ostens oder des Westens eine stärkere Impfbereitschaft hatten. Man kann sich Rahmenbedingungen anschauen. Man kann sich den normativen Rahmen, den sittlichen Rahmen anschauen, und man kann Einzelbeispiele analysieren. Ich selber werde mich aber hüten, eine solch generelle Frage zu beantworten.

Ministerpräsidentenkonferenz

Bund und Länder vereinbaren Schwellen für härtere Corona-Maßnahmen

Flächendeckende Corona-Regeln, die an einen Schwellenwert der Krankenhausein- weisungen gebunden werden: Das hat die Ministerpräsidentenkonferenz am Donnerstag beschlossen. In Gesundheitsberufen soll eine Impfpflicht eingeführt werden.

Dieser normative Rahmen war doch aber zumindest mit Bezug auf die Polio-Impfung bei beiden Staaten gleich: Hier herrschte Impfpflicht.

Das ist schon richtig. Das eine ist die Norm: Was mache ich? Dann brauche ich die, die es wirklich machen, und den Exekutivapparat, der des durchsetzt. Und das Dritte, vielleicht wichtigste: Ich brauche einen Impfstoff. Was in der DDR gar nicht immer der Fall war: Wir haben dafür verschiedene Beispiele, wie die Hongkong-Grippe, die Asia-Grippe und andere, wo gar keine Impfstoffe zur Verfügung standen.

Auch, wenn man das immer wieder liest, es ist schlichtweg falsch: Es gab keine generelle Impfpflicht in der DDR. Da muss man sich anschauen, um welches Jahr es geht, welche Bedrohungslage es tatsächlich gab. Also kann ich auch nicht von einer effektiven Umsetzung der Impfpflicht in der DDR sprechen.

War denn das Impfen in der DDR Ideologie?

Ich würde das ganz klar so sehen. Man darf nie vergessen, dass die DDR aus der von den Sowjets besetzten Zone hervorgegangen ist. Wenn man dann schaut, welche normativen Ordnungen Grundlage für DDR- Verordnungen waren, dann sind es in der Regel Befehle der sowjetischen Militäradministration. Dieser sowjetische Geist steckte in vielen Verordnungen der DDR. Das sieht man auch bei Fragen zu Infektionskrankheiten. Es geht ums Überwachen, Kontrollieren und gegebenenfalls ums Zwingen. Das würde ich generell für das DDR-Gesundheitssystem so beschreiben. Insofern ist es sicherlich ein großer Unterschied zum Westen, der ist doch von einem freiheitlicheren Staatsverständnis geprägt - mit all seinen Vor- und Nachteilen.

Ohne dieses Verständnis hätten wir heute vielleicht mehr geimpft, aber wir hätten unseren Rechtsstaat infrage gestellt. Ob das noch getragen wird von unserem Demokratieverständnis, da habe ich erhebliche Zweifel.

Sofern ist das wahrscheinlich auch ein wenig die Misere, die wir Demokraten haben.

Florian Steger

Nun wurde die Impfkampagne der DDR mit dem Schutz der Gemeinschaft gerechtfertigt.

Ja, das ist sicherlich so, dass das demokratische Verständnis der Bundesrepublik ein stark individualistisch geprägtes ist, das Kollektiv also hinten ansteht. Ein Patient oder eine Patientin muss mir [als Arzt] erst einen Auftrag erteilen zum Handeln, vorher tue ich nichts. Die Selbstbestimmung ist zu wahren. Man muss sich das klarmachen: Selbst eine Blutentnahme ohne Einwilligung ist ein Straftatbestand. Die Kollektivinteressen der sozialistischen Staaten sind sicherlich stärker ausgeprägt. In der ehemaligen DDR waren die Kollektivinteressen im Vordergrund, in der Gesundheitsversorgung nicht das Individuum.

Wäre es in einer Notlage wie einer Pandemie nicht ethisch vertretbar, mehr wie die ehemalige DDR und weniger wie die BRD zu impfen, also mit Zwang statt Überredung?

Nein, das können wir nicht und das lehne ich auch ab. Unsere Freiheitsrechte sind das oberste und höchste Gut. Der Schutz des Individuums ist das höchste Gut einer demokratisch verfassten Zivilgemeinschaft. Das steht unter keinen Umständen zur Disposition. Ja, wir haben eine tatsächlich eine epidemische Lage von nationaler Tragweite. Ich glaube auch nicht, dass man die jetzt schon aussetzen kann. Aber das rechtfertigt nicht eine generelle Aufhebung von Freiheitsrechten und Individualrechten. Wohl, das muss man schon sagen, eine wohlüberlegte Einschränkung von diesen Freiheitsrechten. Es ist kein Menschenleben verhandelbar, keines. Und wenn wir einen solchen kollektiven Ansatz fahren, würden wir diese grundsätzliche Norm infrage stellen. Ich halte das für ethisch nicht vertretbar. Es ist richtig, dass die Impfung extrem schützt. Es ist auch richtig, dass sie uns in eine andere Situation gebracht hätte, wenn sie mehr in Anspruch genommen würde. Es ist aber nicht richtig, dass sich keiner mehr ansteckt, und auch nicht richtig, dass keiner mehr erkrankt. Die Verläufe sind milder, wir hätten zum Schluss weniger Todesfälle im Kollektiv. Aber diese gegeneinander abzuwägen halte ich für ethisch nicht richtig.

Sie haben eingangs gesagt, dass uns diese Pandemie tiefgreifende Veränderungen mit sich bringen wird, vielleicht auch in der Art, wie wir unsere Gesellschaft sehen und definieren. Ein echter System-Check also?

Absolut, absolut. Diese Freiheit, die wir uns aufgebaut haben, diese Globalität und Globalisierung, die Vielfliegerei und alles, was damit zu tun hat, das hat natürlich alles Konsequenzen. Wir sehen es beim Klima und wir sehen es jetzt auch bei den Infektionen. Beim Klima braucht es wohl noch ein bisschen, die Infektion haben wir jetzt vor der Tür. Und das haben wir zu wenig im Blick gehabt. Jetzt müssen wir aber nach vorne schauen und rauskommen, nicht jammern. Da kann man wirklich eines tun: sich zurückziehen, nicht mehr Partys feiern und sich impfen lassen. Mit Zuversicht packen wir das, gemeinsam.

Sendung: Inforadio, 20.11.2021, 9:00 Uhr

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