Interview | Impfpflicht in Ost und West - "Das Impfen gehörte zur DNA der DDR"

Do 18.11.21 | 10:24 Uhr
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Ausstellungstafel: "Das Impfen soll vor Krankheit schützen und wird Dir viele Jahre nützen." DDR ca 1956. (Quelle: © Deutsches Hygiene Museum)
Bild: © Deutsches Hygiene Museum

Befürworter einer Impfpflicht verweisen oft auf die Impf-Erfolge der DDR: Hier wurde ohne Wenn und Aber geimpft. Doch war das wirklich erfolgreich? Ein Interview mit dem Medizinhistoriker Malte Thiessen, der zu dieser Frage geforscht hat.

rbb|24: Herr Thiessen, wer hat besser geimpft, die DDR oder die BRD?

Malte Thiessen: Auf den ersten Blick ist der Wettbewerb zwischen Ost und West ganz eindeutig entschieden: Da gewinnt die DDR.

Die DDR führte schon relativ früh, in den 1960er-Jahren, Impfpflichten ein, und zwar für fast alle Impfprogramme, die es in Ostdeutschland gab - außer für die Grippeschutzimpfung, die blieb freiwillig. Das führte dazu, dass tatsächlich die Impfquote im Osten sehr viel höher war als im Westen. Das hat die DDR dem Westen auch immer sehr gerne unter die Nase gerieben, um zu sagen: 'Seht her, wir tun was für unsere Bürgerinnen und Bürger.'

Zur Person

Malte Thiessen (Archiv)
imago/Manfred Segerer

Malte Thiessen

Medizinhistoriker, Autor und Leiter des LWL-Instituts für westfälische Regionalgeschichte in Münster

Wie hat sich die Impfpflicht in beiden Ländern entwickelt?

In der Tat war die Impfpflicht 1949/50, als die beiden Staaten ihren Anfang nahmen, schon gesetzt - nämlich bei der Pockenimpfung. Die ist seit dem 19. Jahrhundert eine Pflichtimpfung für ganz Deutschland, und da blieb man auch erst mal dran.

Aber dann trennten sich die Wege. Im Westen setzte man zunehmend auf Freiwilligkeit. Alle neuen Impfungen, die eingeführt wurden, blieben freiwillig. Man setzte stärker auf Aufklärung, auf Medienkampagnen, auf niedrigschwellige Angebote. In der DDR setzte man dagegen auf eine Pflicht. Polio, Diphtherie, später Masern, Mumps, Röteln, alles das waren dann in der DDR Pflichtimpfungen, die fest im Kalender der DDR-Bürgerinnen und -Bürger verankert waren.

Mit über einem Dutzend Impfungen vor dem 18. Lebensjahr.

Das ist tatsächlich etwas, was manchmal auch beklagt wurde. Die Termine ballten sich, was ein Stück weit dann auch die Impf-Erfolgsgeschichte der DDR ein bisschen schmälert. Die DDR schaffte es nämlich im Gegensatz zum Westen nur sehr viel später oder zum Teil gar nicht, Mehrfachimpfstoffe anzubieten. Deshalb war dieser Impfkalender immer eine ziemliche Herausforderung. Im Westen funktionierte das eben dank Vier-, Fünf- und Sechsfachimpfstoffen sehr viel besser. Deshalb ist dieses Impf-Rennen auf den zweiten Blick gar nicht mehr so eindeutig.

Dazu muss man wissen, dass die die DDR bei der Impfstoffentwicklung sehr stark abhängig war von der Sowjetunion. Was zum Beispiel beim Polioimpfstoff ein großer Vorteil war, weil die DDR sehr viel früher als der Westen auf ein flächendeckendes Impfprogramm setzen konnte. Aber die Entwicklungsrückschritte, die dann seit den 1970er-Jahren in der Sowjetunion auftraten, schlugen eben auch in der DDR durch. Man wurde bei der Impfstoffentwicklung abgehängt und musste letztlich ab den 1980er-Jahren sogar klammheimlich West-Impfstoffe importieren, vom "Systemgegner".

Aber Fakt ist doch: Mit der Impfpflicht hatte die DDR eine hohe Impfquote. Zwang schlägt Freiheitsliebe.

Wenn man genauer hinguckt, kann man da einige Fragezeichen dahinter setzen. Die Impfpflicht bestand zwar auf dem Papier. Es machte sich zum Beispiel bemerkbar, dass man bei Ferienlagern oder bei FDJ-Veranstaltungen immer wieder den Impfstatus abfragt und versucht, dann zu impfen. Aber es ist eben nicht so, dass sich die DDR als totalitärer Gesundheitsstaat behauptet hat. Es gab auch in der DDR Impfgegner, und man ging zum Teil ziemlich pragmatisch mit ihnen um. Es gab zum Teil Kreise oder Bezirke, die zwanzig bis dreißig Prozent nicht angetroffene Impflinge meldeten. Die galten dann aber nicht als Impfgegner oder Impfskeptiker, sondern sind einfach nicht angetroffen worden.

Man realisierte auch in der DDR, dass eine forcierte Durchsetzung des Zwangs nicht unbedingt der goldene Weg ist. Es gab immer wieder Repressionen, beispielsweise beim Studium, wo der Impfnachweis nachgefragt wurde, oder bei bestimmten Berufsgruppen. Da gab es auch ganz klare Vorgaben: ohne Impfung kein Zutritt. Aber im Alltag war man nicht gewillt oder auch nicht fähig, die 98-prozentige Impfquote, die immer wieder gefordert wurde, wirklich durchzusetzen, weil man sich nicht mit den Skeptikern rumschlagen wollte - auch weil dann Fragen aufkommen konnten, wie der sozialistische Staat mit seinen Bürgern umgeht. Deshalb ist ein gewisser Impf-Pragmatismus auch in der DDR festzustellen.

Wie hingen Impfpflicht und Sozialismus zusammen?

Das Impfen war in der DDR ein Stück weit die Grundlage für das Gesellschaftsverständnis. Weil es eines der besten Werkzeuge für Prävention und Prophylaxe ist, wie es in der DDR oft hieß. Von Anfang an waren Impfprogramme Ausdruck und Beweis des sozialistischen Bewusstseins und auch der sozialistischen Überlegenheit. Darin sehe ich eine große Stärke der DDR im Vergleich zum Westen: die Verankerung des Impfens im Alltag.

Es wurden zum Beispiel Dauerimpfstellen geschaffen, damit Eltern mit ihren Kindern zur Impfung gehen konnten, wann es ihnen passte. Das war im Westen noch gar nicht so selbstverständlich. Auch die Impfungen in den Werken, den vielen Kliniken, Polikliniken oder eben bei Partei- und Jugendveranstaltungen, auch da war die DDR sehr viel weiter als die Bundesrepublik. Das Impfen gehörte sozusagen zur DNA der DDR.

Impfen ist ein Stück weit eine Projektionsfläche für die Unzufriedenheit mit staatlichen Einrichtungen.

Warum ist dann heute auch in Teilen Ostdeutschlands die Impfbereitschaft so gering? Den Leuten wurde das doch anders "eingeimpft"?

[lacht] Schönes Wortspiel.

In der Tat haben wir Gebiete, in denen die Impf-Akzeptanz ziemlich niedrig ist. Und das lässt sich mit einem anderen Phänomen erklären: Beim Impfen geht es nie nur um den Piks für den Einzelnen, nie nur um die Gesundheit, sondern es geht immer auch um das Vertrauen in den Staat. Da scheint es mir tatsächlich in einigen Teilen Ostdeutschlands ein Problem zu geben, dass die Akzeptanz der Impfung senkt. Impfen ist ein Stück weit eine Projektionsfläche für die Unzufriedenheit mit staatlichen Einrichtungen. Und deshalb geht dann die Impf-Akzeptanz wieder runter.

Also, was können wir vom Impfsystem der DDR lernen?

Heute wird oft die Impfpflicht als Vorbild der DDR genommen. Da bin ich skeptisch. Was tatsächlich eine Lehre ist, ist die niedrigschwellige Verankerung des Impfens im Alltag. Und eine intensive Aufklärungs- und Werbearbeit.

Da ist der Westen vielleicht sogar das bessere Beispiel, weil man dort auf Freiwilligkeit gesetzt hat. Umso stärker musste man eben die Menschen auch überzeugen, warum es sich lohnt, zu impfen. Dass wir uns nicht nur für uns impfen, sondern für andere.

Das hat die DDR aber auch gemacht und Überzeugungsarbeit geleistet - obwohl sie eigentlich auf die Impfpflicht setzen konnte. Das tat sie aber nicht, sondern sie versuchte, die Menschen mitzunehmen. Das ist eigentlich immer der erfolgreichere Weg als Druck und Zwang.

Vielen Dank für das Gespräch!

Das Interview führte Sebastian Schöbel.

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81 Kommentare

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  1. 81.

    Das es ein Interview ist habe ich schon verstanden. Es steht ja im header und bedarf deshalb keiner besonderen Erwähnung.

    Aber ist es nicht ihre Pflicht, grundsätzliche Aussagen zu prüfen/hinterfragen? Wenn sie das nicht machen, identifizieren sie sich.

    Und wenn sie schon antworten wollen, dann bitte auf meinen letzten Kommentar, dass war die 30.
    Der gegebene Hinweis mit dem Zeitraum nennt sich Logig und war in meiner HS-Ausbildung ein Kernbereich.

  2. 80.

    Bedrängt wurde man nicht. Die Ärzte kam in die Schulen, Betriebe usw. Da standen dann alle brav an und einer nach dem anderen wurde geimpft. Keine große Diskussion und kein lamentieren.

    Allerdings ist das nur meine persönliche Erfahrung. Wissenschaftler bemühen meist wesentlich bessere Quellen, die einen Gesamteindruck erst ermöglichen. Dazu zählen etwa Impfstatistiken der Behörden. Der Mann muss nicht falsch liegen, nur weil sich seine Aussagen nicht mit meiner Erfahrungswelt deckt.

    Ich würde mir mittlerweile eine mutige Politik wünschen. Aussagen, dass man alles mögliche getan hätte, ohne die generelle Impfpflicht auch nur zu erwägen, finde ich unverschämt. Die Frage muss gestattet sein, wann die Einschränkungen einer wachsenden Mehrheit durch eine schrumpfende (unsolidarische) Minderheit als unverhältnismäßig angesehen werden müssen.

  3. 79.

    Sehr empfehlenswert zu diesem Thema auch: Josephine Tey, Alibi für einen König - wie die Tudors/ Lancasters aus Richard III. ein Monster machten

  4. 78.

    >"Katholische Mädchenschule im Rheinland?"
    Danke der Nachfrage: POS mit 1,3 und weitere Bildungswege...

  5. 77.

    Aber er enthält eindeutig Unwahrheiten. Darauf haben viele Kommentatoren hingewiesen. Der Autor hat die Zeit wohl nicht bewusst erlebt und/oder auch nie in der DDR gelebt. Nehmen Sie zur Kenntnis, dass wir bezüglich des Impfens von der fürchterlichen DDR-Diktatur nicht derart bedrängt und genötigt wurden, wie heute.

  6. 76.

    Danke für die realistische Klarstellung. Es ist immer wieder haarsträubend, wie versucht wird, selbst die ehrlichsten und erfolgreichsten Maßnahmen in der DDR umzudeuten und in den Dreck zu ziehen, meist von Menschen, die die DDR nie erlebt haben. Ich habe dieselben Erfahrungen gemacht, wie Sie.

  7. 75.

    Der Unterschied liegt in der heuchlerischen Scheinheiligkeit des Westens. In der DDR war klar, dass man sich gegen bestimmte Krankheiten impfen lassen muss. Eine verschwindend geringe Minderheit hat sich verweigert. Die Leute hatten auch mehr Vertrauen zum Gesundheitswesen und Medizinern. Heute heuchelt man Entscheidungsfreiheit und nötigt am Ende die Zweifler. Das Vertrauen in einzig profitorientierte Pharmakonzerne und unsere kapitalisierte Medizinindustrie und vielfach geschmierte Ärzte ist auch geringer. Und am Ende genießen unsere Politiker kaum noch ein ernstzunehmendes Ansehen und Vertrauen in der Bevölkerung. Und all das wohl aus gutem Grund, besonders vor dem Hintergrund der Erfahrungen der Ostdeutschen.

  8. 74.

    Ach arme Partymaus, hüpft mal ganz schnell runter vom Ross: Die Impfungen werden erst seit 10,5 Monaten in Deutschland eingesetzt. In Israel wurde nicht einmal ein halbes Jahr vorher angefangen. Internationale Studien, unter anderem von der CDC und PHE, machen durchaus sehr unterschiedliche Aussagen zu den Impfstoffen. Abgesehen davon, dass ihre Wirkung und ihr induividueller Einsatz nicht über einen Kamm geschoren werden kann, wie die Fachleute jetzt erst an Johnson, Astra oder Moderna sehen.
    Wie sagt Prof. Chanasit: Die Aussagen von fachfremden (bildungsfernen) "Experten" bremsen doch immer wieder erheblich.

  9. 73.

    Mathematik war nicht ihre Stärke, oder? Aber ich denke, da gaben sich die Extreme nichts. Vor lauer Rechthaberei haben diese alles massakriert, was eine ander Meinung hatte. ...

  10. 72.

    Dann schauen Sie mal nach Gibraltar. 100% Impfquote und gerade werden die Weihnachtsfeiern abgesagt, wegen steigender Inzidenz. Wir wären weiter, wenn Besonnenheit regieren würde und nicht die Suche nach den Schuldigen!

  11. 71.

    Ich habe das nicht geschrieben, sondern er hat das gesagt.

    Das ist ein Interview.

  12. 70.

    Euer kapitalistisch, imperialistiches System tötet unzählige! Da komme die Kommunisten nicht mal ansatzweise ran!

  13. 69.

    >"Nochmal im Ostblock gab es keinen Sozialismus "
    Sozialismus oder gar Kommunismus in der rein theoretisch philosophischen Art kann es nicht geben, weil der Mensch als von Natur aus nur auf seinen eigenen Vorteil bedachtes Lebewesen dagegen steht. Mehr soziale Marktwirtschaft wie früher mal würde schon reichen und nicht wie aktuell die Risiken auf die Gesellschaft abgewälzt werden und der Gewinn ohne Steuern privatisiert ist.
    Aber das war auch nicht direkt ein Thema dieses Artikels.

  14. 68.

    Lassen Sie sich besser nicht mehr impfen. Es sind noch nicht alle Nebenwirkungen erforscht. Erhöhte Veranlagung zu diskriminierenden Kommentaren könnte eine sein.

    PS: Das ist i.G. nicht meine Art, dennoch fiel mir grad nichts besser passendes ein.

  15. 67.

    Danke Markus. Du trägst mitverantwortlich dazu bei niemanden besonders innerhalb der Familie anzustecken. Sehr vorbildlich. Für mich sind diese Impfungen sogar Lebensnotwendig, da ich an der komplizierten ITP( Immuntrombozytopenie ) leide. Habe gerade erst miterleben müssen, wie kompliziert doch ein kleiner Gefäßeingriff im linken Bein sein kann. Zuvor mußte ich in 5 Tagen jede Menge an Immuglubin zugeführt bekommen um mein Trombozyten Wert auf den höchsten Stand zu bringen. Der Eingriff verlief erfolgreich u.ich konnte nach nur 1 Nacht das Krankenhaus wieder verlassen. Ich kann einfach nicht nachvollziehen weshalb es weiterhin Personen gibt die sich vehement weigern sich Impfen zu lassen.

  16. 66.

    Lassen Sie sich impfen, alles andere ist sinnlose Schwurbelei.

  17. 65.

    Wieso? Ich kann den Kommentar von "Newcomer" durchaus nachvollziehen. Er äußert hier seine Meinung und das darf er noch, auch wenn es ihnen nicht passt.

    Wenn er auf diesen Impfstoff warten will, ist es sein gutes Recht...noch gibt es die freie Impfentscheidung. Bis dahin ist er halt dank 2G raus.

    Und die Impfung als solidarischen Akt hochzuspielen, hielt und halte ich sowieso für grundverkehrt. Das ist jetzt vielmehr der Knüppel mit dem auf alle Ungeimpften eingeschlagen werden kann.
    Ich erlebe jeden Tag Geimpfte die sich alles andere als solidarisch verhalten, die kein Wert mehr auf irgendeine AHA Regel legen, aber rumtönen was für die Gemeinschaft getan zu haben. Verrotzt zur Arbeit kommen und was von "bin doch geimpft" faseln usw.


  18. 63.

    "Das ist unbegreiflich, wie unerreichbar Sie sind." - Dito!

    Haben Sie den Kommentar überhaupt komplett gelesen UND begriffen bzw. versucht, ihn zu begreifen?

  19. 62.

    Dann eben keine Kommunikation mehr, ihr solltet wissen, wohin das führt!

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