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Video: rbb24 Abendschau | 10.10.2022 | Andrea Everwien | Quelle: imago images/koall

Kündigungswelle

Sozialpsychiatrischer Dienst in Neukölln stellt telefonischen Notdienst ein

Der sozialpsychiatrische Dienst in Neukölln soll Menschen in akuten psychischen Ausnahmesituationen beistehen. Doch nach einem Streit im Gesundheitsamt ist niemand mehr da, um Betroffenen zu helfen. Von A. Everwien, O. Tischewski, E. Angeloudis

Christian Pragst hat ein schlechtes Gewissen. Er wollte seinen Job beim Sozialpsychiatrischen Dienst (SpD) in Neukölln gerne besser machen. Aber für ihn und für viele andere im Neuköllner SpD ist eine Grenze überschritten worden. Dabei ist es die Aufgabe des Sozialpsychiatrischen Dienstes, es zu solchen Eskalation gar nicht erst kommen zu lassen, sagt Pragst, der nach drei Jahren als Psychotherapeut beim SpD kürzlich gekündigt hat. "Man gewöhnt sich an alles”, sagt der Psychologe, "aber das sollte man nicht."

Leiterin und Mitarbeitende verlassen den Dienst

Die Bereichsleitung, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie, sowie weitere sechs Psychologen und Sozialarbeiter des Sozialpsychiatrischen Dienstes haben in den letzten Monaten gekündigt. Der Personalmangel zwang die wenigen verbliebenen Ärzte, Psychiater, Psychologen und Sozialarbeiter mit einem Hilferuf auf den Notstand aufmerksam zu machen. Die Versorgungslage sei “katastrophal“, heißt es in dem Appell an den Neuköllner Bezirksbürgermeister Martin Hikel (SPD). Auch der telefonische Notdienst ist ausgesetzt. Eine Nachricht vom Band verweist Betroffene an Polizei und Feuerwehr.

"Jemand will demnächst seinen Vater mit der Axt erschlagen. Ein anderer trägt keine Kleidung mehr, lebt in einer anderen Realität, verkennt Menschen und Situationen, rastet gelegentlich aus und bedroht Passanten. Wer kümmert sich, leitet den Weg ins komplexe Hilfesystem? Wer beurteilt, ob jemand eine Gefahr für sich oder andere ist, also auch gegen seinen Willen in die Klinik muss?", heißt es in dem Hilferuf der Mitarbeiter Sozialpsychiatrischen Dienstes in Neukölln.

Nur noch eine Ärztin übrig

Die Priorisierung von akuten Fällen beim Neuköllner SpD sei tragisch, weil man somit Krisen nicht unterbinden könne, sagt Pragst dem rbb. "Wenn wir nur noch ausrücken, weil jemand gerade in einer ganz gefährlichen Situation steckt, dann müssen wir vieles liegen lassen und warten, bis etwas Schlimmeres passiert."

"Ende letzten Jahres waren wir noch voll besetzt", sagt Pragst dem rbb. Sechs Ärzte haben des SpD damals unterstützt. "Ab November ist es dann nur noch eine. Das ist schon eine sehr drastische Veränderung." Vieles habe damit zu tun, dass die Ressourcen nicht richtig eingesetzt worden sein, so Pragst. “Akut hat es sich nochmal drastisch verschlimmert, weil wir in dieser Situation die wenigen wirklich guten Fachkräfte, die wir hatten, gerade auch in der Leitung, jetzt auch noch aufgrund von persönlichen Streitigkeiten verlieren."

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Konflikt im Gesundheitsamt

Gemeint ist die Gesundheitsstadträtin Mirjam Blumenthal (SPD), deren umstrittener Führungsstil zu Konflikten mit ihrem Amtsarzt Nicolai Savaskan und zu den Kündigungen des Personals geführt haben soll.

"Nein, das sehe ich nicht so", sagt Jochen Biedermann, der stellvertretende Bürgermeister Neuköllns dem rbb. "Wir haben eine schwierige Situation im Gesundheitsamt, das ist keine Frage. Aber ich glaube nicht, dass die Gesundheitsstadträtin das Problem ist."

Es sei auch nicht das erste Mal, dass sich der Sozialpsychiatrische Dienst in solch einer Krisenlage befinden würde. "Wir hatten ja schon 2019/2020 die Situation, dass der Krisendienst über Monate hinweg nicht stattfinden konnte." Der Bezirk versuche, die freien Stellen schnellstmöglich zu besetzen und Menschen dafür zu gewinnen, im Gesundheitsamt Neukölln zu arbeiten.

Der Krisendienst braucht den SpD

Und dennoch wartet neu eingestelltes Personal monatelang auf Arbeitsverträge. Wer noch da ist, muss sich bei der Arbeit darauf konzentrieren, das Schlimmste zu verhindern. Für Einrichtungen wie Zuhause im Kiez, ein Wohnprojekt vorrangig für Suchtkranke, ist der Ausfall des SpD Notdienstes in Neukölln ein großes Problem.

"Wenn Menschen bei uns in psychische Krisen geraten, dann kann das sein, dass wir den Notdienst vom Sozialpsychiatrischen Dienst benötigen", sagt Isa Meusel, Leiterin eines Projektes nahe der Sonnenallee. "Wenn der Klient für uns nicht mehr zu erreichen ist und sich selber gefährdet oder andere gefährdet, dann müssen wir natürlich handeln. Und dann ist der SpD am Zug."

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Doppelspitze als Lösung?

Nun will der Bezirk dem Chaos Herr werden und das Neuköllner Gesundheitsamt umkrempeln. Nachdem Neuköllns bisherigem Amtsarzt vor Kurzem gekündigt wurde, soll der neuen amtsärztlichen Leitung künftig eine Verwaltungsleitung zur Seite gestellt werden. "Es ist eine Doppelspitze, wo sich eine Verwaltungsleitung um die Fragen von Personaleinstellungen, von Finanzen, von Organisationen kümmern soll", sagt Biedermann dem rbb. "Auf der anderen Seite die Stelle einer Amtsärztin oder eines Amtsarztes, die natürlich in den ärztlichen Geschichten auch unabhängig ist und selbstverständlich nicht irgendwelchen Weisungen unterliegt."

Der Verband der Ärztinnen und Ärzte im öffentlichen Gesundheitsdienst hat Zweifel daran, ein Gesundheitsamtsleiter ohne medizinische Qualifikation ist für sie eine Fehlkonstruktion, so ihre Stellungnahme. Wann die Doppelspitze überhaupt kommt und wie es in der Zwischenzeit mit den Patienten weitergeht, ist bislang unklar.

Sendung: rbb24 Abendschau, 10.10.2022, 19:30 Uhr

Beitrag von Andrea Everwien, Oda Tischewski, Efthymis Angeloudis

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