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Audio: rbb24 Inforadio | 11.10.2022 | Oda Tischewski | Quelle: imago images/Christian Mang

Geflüchtete in Berlin

"Ich träume davon, legal arbeiten zu können - und von einer eigenen Wohnung"

In Berlin kommen Geflüchtete verschiedenster Nationalitäten an. Die Geschichten vieler Menschen sind dramatisch, sie brauchen dringend Hilfe – aber die Unterkünfte sind voll, die Kapazitäten erschöpft. Von Oda Tischewski

Nasima* ist 24. In Afghanistan haben sie und ihr Mann als Journalisten gearbeitet, dann kamen die Taliban zurück. Zusammen mit dem kleinen Sohn musste das Paar seine Heimat verlassen, die erste Station war Polen. Seit zehn Monaten leben sie nun im Marie-Schlei-Haus, einer Unterkunft der Arbeiterwohlfahrt in Berlin-Reinickendorf, wo auch Nasimas zwei Schwestern und ihr Bruder untergebracht sind.

Wie geht es nun weiter? "Wenn die Lage in Afghanistan besser und die Taliban weg wären, würde ich sehr gern wieder zurückkehren", erzählt Nasima, "Wenn das nicht geht, träume ich davon, dass wir hier bleiben und legal arbeiten können, dass mein Sohn in die Kita geht und wir eine eigene Wohnung finden."

Jonas Feldmann leitet das Marie-Schlei-Haus in Berlin-Reinickendorf | Quelle: privat

Wunsch nach Privatsphäre

Eine eigene Wohnung, davon träumen wohl alle 195 Bewohner des Marie-Schlei-Hauses. Nach Ankunftszentrum und Aufnahmeeinrichtung ist die Gemeinschaftsunterkunft ihre dritte Station, meist sind sie zu diesem Zeitpunkt schon seit einem halben Jahr in Berlin – entsprechend groß ist der Wunsch nach Privatsphäre. Doch ihre Chancen stehen schlecht: Der Berliner Wohnungsmarkt ist schon für Menschen mit deutschem Pass und Vollzeitstelle schwer zu knacken.

Und viele im Marie-Schlei-Haus haben gar keine Aussicht auf einen Aufenthaltstitel: Sie kommen aus der Republik Moldau oder aus Georgien und gehören zu den Roma, die dort diskriminiert werden - als Asylgrund reicht das in Deutschland allerdings nicht aus. So bleibt die Gemeinschaftsunterkunft, bis sie entweder abgeschoben werden oder einer Abschiebung durch freiwillige Ausreise zuvorkommen.

Hälfte der Bewohner Kinder

Das Marie-Schlei-Haus am Reinickendorfer Eichborndamm ist ein sechsstöckiger Zweckbau mit einer metallenen Feuertreppe an der Fassade und einem kleinen Spielplatz. Bis vor einigen Jahren lebten hier Senioren, die Aufzüge und die rollstuhlgerechten Durchgänge erinnern noch daran. Dann wurde das Haus zur Gemeinschaftsunterkunft für Asylbewerber umgebaut - aber auch die brauchen die breiten Türen, denn als Heim für besonders schutzbedürftige Flüchtlinge beherbergt das Marie-Schlei-Haus vorrangig Kranke und Behinderte, Schwangere, aber auch Opfer von Folter und Misshandlungen. Etwa die Hälfte der Bewohner sind Kinder.

Über 300.000 Menschen angekommen

Wohnungssuche für Geflüchtete aus Ukraine in Berlin sehr schwer

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Bearbeitung von Anträgen zieht sich hin

"Viele Leute kommen sehr krank hier an", erzählt Jonas Feldmann, der Leiter des Marie-Schlei-Hauses. "Aus der Republik Moldau haben wir einen hohen Anteil von Menschen mit Roma-Hintergrund – Menschen, die oft keine Gesundheitsversorgung in ihren Heimatländern haben. Wir haben auch viele Fälle von Menschen, die sehr, sehr spät kommen, teilweise zu spät, und die mehr oder weniger dann zum Sterben in Deutschland sind."

Den anderen, meist jungen Familien, helfen Feldmann und seine Mitarbeiter bei der Suche nach Kitaplätzen, beim zähen Kampf um eine durchgehende Krankenversicherung oder bei Konflikten mit der Schule. Oft zieht sich die Bearbeitung von Anträgen oder Widersprüchen wochen- oder monatelang hin, Leben in der Unterkunft bedeutet vor allem: Warten – und das raubt Energie.

LAF immer auf der Suche nach neuen Immobilien

Derweil kommen in Berlin täglich weitere Geflüchtete an: Im Jahr 2021 waren es etwa 7.800, die dauerhaft in der Stadt blieben – eine Zahl, die in diesem Jahr sicher überschritten werden wird. "Ehrlich gesagt ist es so, dass wir jetzt im Herbst wirklich an das Ende der Fahnenstange geraten", sagt Sascha Langenbach vom Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten (LAF). "Wir haben einfach keine Plätze mehr, weder in Aufnahmeeinrichtungen noch in Gemeinschaftsunterkünften wie dem Marie-Schlei-Haus."

Gemeinsam mit gemeinnützigen Trägern wie Diakonie, Arbeiterwohlfahrt oder Berliner Stadtmission betreibt das LAF in Berlin knapp 90 Flüchtlingsunterkünfte. Und weil die alle ausgelastet sind, sind Sascha Langenbach und seine Kollegen ständig auf der Suche nach weiteren Immobilien, die sich als Unterkünfte eignen würden. "Der Berliner Immobilienmarkt bringt aber kaum geeignete Objekte hervor. Das ist in Berlin im Moment ein ganz, ganz hartes Brot, was man da zu kauen hat."

Berliner Senat

Bis zu 5.000 weitere Plätze für Geflüchtete nötig

Günstiger Wohnraum fehlt

Verschärft wird die Situation noch durch das, was im Frühjahr als Notlösung begann und nun die Grenzen von Geduld, Mitgefühl und Toleranz erreicht hat: Die private Unterbringung von Frauen und Kindern, die vor den russischen Angriffen aus der Ukraine geflüchtet sind. "Es sind sehr viele Menschen, die im Moment die vorübergehende Unterkunft, die von Freunden, Verwandten, deutschen Nachbarinnen und Nachbarn bereitgestellt wurde, verlieren, weil man dort einfach sehr eng und prekär gelebt hat", so Langenbach, "Wir haben aber keine günstigen Wohnungen in Berlin. Nicht in der Masse, wie wir sie brauchen würden. Aber es gibt sehr viele Menschen, die jetzt im Ukraine-Ankunftszentrum in Tegel ankommen und sagen, wir sind quasi vom Sofa gefallen – es geht nicht mehr."

Status ohne Perspektive

Auch die Lage von Nasima und ihrem Mann ist ungeklärt. Weil sie auf der Flucht aus Afghanistan zunächst in Polen registriert wurden, müssten sie laut dem Dublin-Abkommen eigentlich dorthin zurückkehren, um Asyl zu beantragen - doch Nasima möchte nicht wieder ohne ihre Familie leben. Ihr sei es in Polen schlecht gegangen, erzählt sie, keine Familie, kaum andere Ausländer, schon gar keine Afghanen.

Weil Polen bereits viele Geflüchtete aus der Ukraine aufgenommen hat, schiebt Deutschland dorthin momentan kaum ab. Im Moment sind Nasima und ihr Mann hier geduldet, doch der Status ohne die Perspektive, bleiben oder gar arbeiten zu können, belastet das Paar. Die Deutschkurse, die sie besuchen, bezahlen sie aus eigener Tasche. Wie es weitergehen wird, wissen die beiden nicht.

Infobox: Geflüchtete in Berlin

Das Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten (LAF) verfügt über 27.717 Plätze in Unterkünften

- davon 23.369 in Gemeinschaftsunterkünften

- und 4.349 in Aufnahmeeinrichtungen

Es sind aber nur noch 217 Plätze frei

- 151 Plätze in Gemeinschaftsunterkünften

- 66 Plätze in Aufnahmeeinrichtungen

(Stand 05.10.2022)

In den Einrichtungen wohnen rund 7.000 Geflüchtete, die bereits Asyl bekommen haben und deshalb in eigene Wohnungen ziehen durften. Damit sind sie eigentlich nicht mehr in der Verantwortung des LAF, sondern in der Verantwortung der Bezirke.

Weil es für sie aber keinen freien Wohnraum gibt, leistet das LAF Amtshilfe für die Bezirke und bringt die Menschen in seinen Unterkünften unter.

Dort dürfte es demnächst noch enger werden: Die Zahl der täglich in Berlin neu Ankommenden und in Berlin Verbleibenden steigt kontinuierlich an.

- Bis August 2022 hatten 7.208 Menschen einen Asylantrag in Berlin gestellt, dazu kommen 715 Personen im Rahmen von Landesaufnahmeprogrammen

- Im gesamten Jahr 2021 sind 7.762 Menschen in Berlin ins Asylverfahren gekommen

- Im August 2022 kamen die meisten Schutzsuchenden aus Syrien, Moldau, Afghanistan, Georgien und der Türkei.

- Das LAF rechnet damit, demnächst monatlich zwischen 1.000 und 1.500 Asylbegehrende unterzubringen.

- Außerdem kamen im September 2022 4.327 Geflüchtete aus der Ukraine in Berlin an. Davon wurden 1.568 per Schlüssel Berlin zugewiesen und konnten bleiben.

- In den zurückliegenden Wochen wurden zwischen 300 und 400 Ukrainerinnen und Ukrainer pro Woche nach Berlin verteilt.

Das LAF sucht nun täglich nach neuen Unterkünften

- Im September wurde ein Neubau mit 265 Plätzen in Betrieb genommen

- Anfang Oktober öffnete eine Unterkunft mit 270 Plätzen

- Mindestens eine Unterkunft soll im November an den Start gehen

* Name von der Redaktion geändert

Sendung: rbb24 Inforadio, 11.10.2022, 08:20 Uhr

Beitrag von Oda Tischewski

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