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Video: Abendschau | 13.02.2021 | Freya Reiß | Quelle: dpa-Symbolbild/Robin Utrecht)

Interview | Rolf Rosenbrock

Experte warnt vor Lockdown-Folgen für Kinder aus Suchtfamilien

Nahezu jedes fünfte Kind lebt in Deutschland in einer Familie mit Alkohol- oder anderen Suchtproblemen. Der Lockdown führt sie endgültig in die Sackgassse, warnt Rolf Rosenbrock, Vorsitzender des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbands, im rbb-Interview.

rbb: Herr Rosenbrock, was ist das größte Problem von Kindern aus Suchtfamilien

Rolf Rosenbrock: Die Kinder und Jugendlichen haben keine verlässlichen Bezugspersonen. Sie erleben oft psychische oder körperliche Gewalt in der Familie. Was ihnen fehlt, ist ein sicherer Ort und Ansprechpartner, mit dem sie über ihre Probleme reden können. Und wir reden hier über zwei bis drei Millionen Kinder in Deutschland, deren Probleme in unserer Gesellschaft bislang kaum wahrgenommen werden. Diese Kinder bräuchten dringend mehr Aufmerksamkeit, vor allem im derzeitigen Lockdown, wo die sonstigen kleinen Fluchtmöglichkeiten dieser Kinder entfallen.

Welche Fluchtmöglichkeiten sind das?

Zum Beispiel die Schule. Für viele dieser Kinder ist die Schule ein Ort, an dem sie nicht mit den elterlichen Problemen konfrontiert sind, sondern mit Gleichaltrigen reden können. Allerdings muss ich dazu sagen, dass die meisten auch mit Freunden nicht über ihre Probleme reden, weil Abhängigkeitserkrankungen immer noch ein Tabu sind. Aber die Kinder oder Jugendlichen haben wenigstens die Möglichkeit, in der Schule einige Stunden am Tag mal frei von den häuslichen Problemen zu sein. Und das fällt durch den Lockdown zurzeit weg - genau wie die Möglichkeit, sich einfach mal mit Freunden zu treffen und abzuhängen. Die Kinder sind in dieser Situation zuhause und damit der Gewalt ihrer Eltern gnadenlos ausgeliefert.

Zur Person

Rolf Rosenbrock

Der 75-jährige Rolf Rosenbrock ist seit 2012 ehrenamtlicher Vorsitzender des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes - Gesamtverband. Schon seit 2006 ist er Vorsitzender der Landesvereinigung Gesundheit Berlin-Brandenburg e.V. Rosenbock studierte bis 1972 Betriebswirtschaftslehre, Politische Ökonomie und Sozialwissenschaften an der FU Berlin. Bereits während seines darauffolgenden Auslandsaufenthaltes in Chile beschäftigte er sich intensiv mit der dortigen Kinderhilfe. Viele Jahre lang war Rosenbrock tätig in Forschung und Lehre in den Bereichen Gesundheitspolitik und Sozialwissenschaften. Rosenbrock war auch Mitglied der Zentralen Ethikkommission der Bundesärztekammer.

Das klingt drastisch. Wie muss ich mir dieses Ausgeliefertsein vorstellen?

Ich habe einen guten Freund, der ist in einer solchen Familie aufgewachsen, der hat das mal so zusammengefasst: Du weißt nie, was im nächsten Augenblick passiert. Da kann sowohl die Situation eintreten, dass du blitzartig ausweichen musst, weil eine Bierflasche nach dir geworfen wird. Und im nächsten Moment sitzt dein tränenüberströmter Vater auf dem Sofa, zerrt dich auf seinen Schoss, sagt, was für ein schlechter Mensch er ist, und verspricht, dir eine elektrische Eisenbahn zu schenken. Das Schlimme daran ist, dass das Ganze überhaupt nicht berechenbar ist. Die Kinder sind dem ausgeliefert, dabei bräuchten sie stabile Strukturen, die ihnen Halt und Sicherheit geben.

Wenn Schulen, Sportvereine und die meisten Jugendclubs wegen des Lockdowns geschlossen sind, welche Möglichkeiten haben die betroffenen Kinder und Jugendlichen, um sich Hilfe zu suchen?

Für viele Kinder aus suchtbelasteten Familien ist das Internet heute das einzige Fenster zur Welt. Und das merken auch die Beratungsstellen von NACOA, der Interessenvertretung für Kinder von Suchtabhängigen: die Nachfrage nach Online-Beratungen ist seit Beginn der Pandemie sprunghaft gestiegen. Deshalb müssen diese Angebote auch ausgebaut und finanziell dauerhaft abgesichert werden. Aber wir brauchen auch konkrete Hilfen. Eine unserer zentralen Forderungen ist, dass Kinder Unterstützung erhalten, ohne dass vorher ein Antrag beim Jugendamt gestellt werden muss. So ein Antrag setzt regelmäßig das Einverständnis der Eltern voraus, und damit sind diese Kinder quasi in einem zweiten Lockdown, sie kommen da nicht raus.

Aber das größte Problem ist, dass diese Gruppe von Kindern aus Suchtfamilien in der Öffentlichkeit nicht bekannt ist. Und man kann sie nur bekannt machen, wenn man das Problem benennt. Wir müssen aufhören, Süchte weiter zu tabuisieren, sondern wir müssen sie als das benennen, was sie sind: eine Krankheit.

Infobox

Aktionswoche für Kinder aus Suchtfamilien

Die beiden Initiativen NACOA Deutschland e.V. [nacoa.de] und Such(t)- und Wendepunkt e.V. führen vom 14. bis 20. Februar eine bundesweite Aktionswoche für Kinder aus suchtkranken Familien durch. Dabei bieten in ganz Deutschland zahlreiche Initiativen, Hilfeprojekte und Selbsthilfeverbände Veranstaltungen an, bei denen sich Interessierte über Kinder aus Suchtfamilien und Möglichkeiten der Hilfe informieren können. Detaillierte Informationen gibt es hier [coa-aktionswoche.de]

Wie kommt es, dass über die betroffenen Kinder und Jugendlichen bislang wenig gesprochen wird?

Das Problem ist, dass diese Kinder sich in der Regel nicht selbst sichtbar machen. Es braucht aufmerksame Beobachter, die erkennen: Hier ist ein Kind mit elterlichen Suchtproblemen, das kann sich nicht äußern, dem müssen wir Hilfe anbieten. Das heißt auch, dass ErzieherInnen, LehrerInnen und Menschen in Freizeiteinrichtungen geschult werden müssen, solche Kinder zu erkennen. Und sie müssen wissen, dass diese Kinder kein Mitleid brauchen, das sie nur schwächt, sondern eine Unterstützung, die sie stark macht.

Sie haben angedeutet, dass die Eltern oft das Problem sind. Heißt das, das eine Hilfe für die Kinder nur gegen die Eltern möglich ist?

Das ist von Fall zu Fall unterschiedlich. Aber auf alle Fälle müssen wir die Familie als soziales System sehen. Wir können nicht einzelne Elemente aus diesem System heraustrennen und dann allein therapieren. Auf der einen Seite sind die Eltern die entscheidenden Machtfaktoren in der Familie, und um an sie besser ranzukommen, brauchen wir erst mal eine Entstigmatisierung ihrer Erkrankung. Auf der anderen Seite können wir darauf nicht warten, bis sie gesund sind, d.h. wir brauchen für die betroffenen Kinder eine Nothilfe und eine stabile Unterstützung durch verlässliche Bezugspersonen.

Herr Rosenbrock, wir danken Ihnen für das Gespräch.

Das Interview führte Matthias Bertsch.

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