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Quelle: dpa/Peter Steffen

Quarantäne und Gruppenkoller

Pandemie trifft Jugendhilfe hart

In den stationären Einrichtungen der Jugendhilfe finden Kinder und Teenager Unterstützung. Corona hat die Situation für Personal und Jugendliche deutlich verschärft. Sie fühlen sich von der Politik mitunter vergessen. Von Sophia Wetzke

"Wir haben viele Jugendliche, die spürbar auffälliger sind", sagt Sozialarbeiterin Sarah. Sie arbeitet in einer Berliner Kriseneinrichtung der Jugendhilfe. Das erste Auffangbecken für Minderjährige, wenn es zuhause gar nicht mehr geht. Weil Gewalt passiert, weil es Suchtprobleme in den Familien gibt. Sarahs Einrichtung, die "Krise", wie die Mitarbeitenden die Stelle kurz nennen, gibt den Jugendlichen eine erste temporäre Unterkunft und versucht in Gesprächen mit Jugendämtern und Familie, neue Perspektiven zu schaffen. "Du hast psychisch auffällige Jugendliche, du hast straffällige Jugendliche, 13-Jährige mit schlimmen Drogenproblemen. Manche kommen von der Straße, die Gruppe wechselt ständig. Die kriegst du nicht alle eingefangen.", sagt Sarah.

Seit Corona sei die Arbeit in der Krise schwieriger geworden. Zur sowieso schon angespannten Situation der Jugendlichen, kommen seit über einem Jahr Hygiene- und Abstandsregeln hinzu. Diese durchzusetzen, sei ein ständiger Kampf, so die Sozialarbeiterin. Da die Einrichtung niemanden einsperren darf, versuchen die Betreuer zumindest verbal auf die Jugendlichen einzuwirken. "Überleg dir gut, ob du jetzt unbedingt rausgehen musst und mit wem du dich triffst, du weißt nicht, wo die sich rumdrücken", sagt Sarah dann. Und: "Wenn du rausgehst und Leute triffst, kommst du als Infektionsrisiko in unsere Gruppe zurück."

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Mehrfach musste Sarahs komplette Kriseneinrichtung in Quarantäne. Für die instabilen Jugendlichen besonders schwierig. Gesellschaftsspiele können sie nach ein paar Tagen nicht mehr sehen, Lesen interessiert viele nicht, während der Quarantäne war Rausgehen maximal im Hof erlaubt. Ein Lichtblick war der internetfähige Fernseher, den die Betreuerinnen kurz vor Weihnachten über den Träger besorgen konnten, um einen Netflix-Account einzurichten.

"Jeden Tag dieselben vier Wände, dieselben Leute, das führt bei mir schnell dazu, dass es mir schlechter geht. Dann war die Quarantäne auch noch an Weihnachten und wir konnten unsere Familien oder Freunde nicht besuchen. Das nagt an einem", sagt die Jugendliche Rebecca, die zwei Wochen Quarantäne in der Krise miterlebt hat. Auch der mittlerweile 18-jährige Aziz hat als Bewohner einer anderen Einrichtung, einer festen Wohngruppe der Jugendhilfe, mehrfach eine Quarantäne mitmachen müssen.

"Ich wollte meine Schulaufgaben machen und konnte mich nicht mehr konzentrieren. Auf gar nichts mehr. Ich habe gemerkt, wie ich richtig depressiv wurde. Wir haben dann tagsüber geschlafen und waren nachts wach. Weil wenn du morgens so früh aufstehst und siehst, draußen ist schönes Wetter, aber du kannst nichts machen, wirst du noch trauriger als sonst schon."

Betreuerpersonal kommt an Grenzen

Besonders das Home-Schooling sei eigentlich nicht zu schaffen, sagt Jan, Betreuer einer festen Wohngruppe, eine Art WG der Jugendhilfe. Er ist zeitweise für neun Jugendliche parallel verantwortlich und dafür, dass diese am digitalen Unterricht teilnehmen. "Die technische Ausstattung ist unter aller Kanone, ständig stürzt etwas ab, das klappt vorne und hinten nicht. Und wir sind ja ein kompletter Familienersatz: ich wecke die Jugendlichen, ich koche und mache auch den Papierkram. Das ist eine One-Man-Show, die ich hier mache."

Ein bereits zu Beginn der Pandemie extra aufgelegtes Programm der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie verspricht Unterstützung der Jugendhilfeeinrichtungen: durch Schutzmaterialien wie Masken und Selbsttests, durch einen temporären Personalpool, durch zusätzliche Hilfe beim Home-Schooling. Weil die Einrichtungen aber von vielen unterschiedlichen Trägern betrieben werden – große, kleine, öffentliche, freie – kommen diese Hilfen sehr unterschiedlich in den Gruppen an. Die Träger selbst seien letztendlich dafür verantwortlich, die Unterstützung abzurufen, so ein Sprecher der Bildungsverwaltung. Diese fehlende Einheitlichkeit macht sich auch beim betreuenden Personal bemerkbar: Die einen fühlen sich für die Arbeit in dieser Sondersituation Corona gut ausgestattet, andere sehen einen Mangel.

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Wunsch nach mehr Wahrnehmung

Eine Corona-Prämie wäre toll, sagt Betreuer Jan. Aber mehr öffentliche Wahrnehmung der Arbeit stationärer Jugendhilfeeinrichtungen würde auch schon helfen, sind sich Jan aus der Wohngruppe und Betreuerin Sarah aus der Krisenstelle einig. Zu Recht werde über Krankenhäuser, Altenpflege, Kitas oder Obdachlosenhilfe und deren Kämpfe in der Pandemie gesprochen. Doch die Jugendhilfe fühlt sich mitunter vergessen und unsichtbar.

Dabei werden diese Einrichtungen auch nach Corona gebraucht, vielleicht sogar mehr als vorher. Denn es fehlen zurzeit die beobachtenden Mechanismen durch schützende Netze wie Schulsozialarbeiter. Die stationäre Jugendhilfe befürchtet, dass nach dem Ende der Pandemie erst die Fälle häuslicher Gewalt und gefährlicher Familiensituationen sichtbar werden, die sich jetzt schon hinter verschlossenen Türen abspielen.

Sendung: radioeins, 29.04.2021, 16 Uhr

Beitrag von Sophia Wetzke

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