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Quelle: IMAGO / Contrast

Kommentar | Herthas drohender Abstieg

Scheitern als Chance

Ein Bundesliga-Abstieg gilt gemeinhin als sportlicher Super-Gau. Aus der Sicht eines Fans kann er aber auch Vorteile haben. Unser Kommentator Fabian Friedmann ist Nürnberger und hat das Desaster, das Hertha bevorsteht, schon häufiger erlebt.

So mancher britische Trainer hatte die Gabe, Fußball und das ganze Theater drumherum schnörkellos auf den Punkt zu bringen. Unvergessen der altehrwürdige Liverpool-Coach Bill Shankly, der einst philosophisch über den Sport apostrophierte: "Manche Leute glauben, dass Fußball eine Frage von Leben und Tod ist. Ich bin von dieser Einstellung sehr enttäuscht. Ich kann Ihnen versichern, dass es viel, viel wichtiger ist."

Nun soll es hier um den drohenden Abstieg von Hertha BSC gehen, also zitiere ich an dieser Stelle lieber den ehemaligen englischen Nationalspieler und heutigen TV-Experten Gary Neville: "In meinen 20 Jahren im Fußball hatte ich das Glück, noch nie einen Abstieg erlebt zu haben. Und während an der Spitze der Liga der Erwartungsdruck herrscht, herrscht am Ende Angst und Unruhe, was fast noch schlimmer ist."

Rechenspiele für Herthas Klassenerhalt

Zum Siegen verdammt

Hertha BSC muss die zwei verbleibenden Spiele in der Fußball-Bundesliga gewinnen, um die Minimalchance auf den Klassenerhalt zu wahren. Zudem müssen die Konkurrenten patzen - und mindestens zwei von drei möglichen Szenarien eintreten. Von Fabian Friedmann

Negativer Druck seit Jahren

Was Neville wohl sagen wollte: Es gibt sportlichen Druck, der ist positiv, weil man etwas gewinnen kann - und es gibt den negativen, der dort herrscht, wo es um die sportliche Existenz geht. Hertha BSC ist diesem negativen Druck seit Jahren ausgesetzt. Auf hohe Ambitionen folgte Abstiegskampf auf Abstiegskampf, der Trainerverschleiß ist immens, das alljährliche Frustpotenzial hoch und Ultras stürmen auch schon mal den Trainingsplatz, um ihrem Ärger Luft zu machen.

All das beobachte ich aus der gesicherten Außenansicht eines Journalisten, dessen emotionale Verbundenheit mit der Hertha sehr gering ist. Aufgrund meiner fränkischen Herkunft halte ich es mit dem 1. FC Nürnberg, dem "Glubb" - dem Rekordabsteiger der Bundesliga. Der "Ruhmreiche", wie ihn meine Freunde und Nürnberger ironisch nennen, spielt seit der Saison 2019/20 in der 2. Bundesliga – mal wieder.

Selbstreinigung und halbleere S-Bahnen

Und mit dieser Expertise kann ich sagen, jeder Abstieg ist zwar be..., aber man kann, nein, man muss ihn auch als Chance begreifen. Ich wage sogar die These: Man kann sich als Herthaner auf die zweite Liga freuen, aber dazu später mehr.

Zunächst einmal soll hier auf die selbstreinigenden Effekte eines sportlichen Niedergangs hingewiesen werden. So genannte Event-Zuschauer, die ins Stadion gehen, weil sie das "Event" Bundesliga als gesellschaftlich relevant betrachten und sich deshalb gerne mit einem Stadionbesuch schmücken, diese "Fans" sind zumindest im Nürnberger Max-Morlock-Stadion kaum noch anzutreffen. Echte und nicht aufgesetzte Vereinsliebe, wohin man blickt.

Ein nur halb volles Olympiastadion an einem Zweitliga-Spieltag hat darüber hinaus auch praktische Vorteile: keine langen Schlangen vor den Bierständen und Toilettenhäuschen, keine nervigen Anfahrten in voll besetzten S-Bahnen und die potenzielle Aussicht gegen Holstein Kiel ein paar Hertha-Treffer und am Ende einen Heimsieg zu bejubeln.

Ein Treffen mit alten Freunden

Darüber hinaus ist die 2. Bundesliga attraktiv: der Hamburger SV (wenn der Aufstieg wieder schief geht) und der FC St. Pauli, Kaiserslautern, Rostock, Magdeburg, Düsseldorf, Braunschweig und natürlich mein 1. FC Nürnberg – deutsche Fußball-Romantiker verdrücken schon bei der Nennung dieser Namen die ein oder andere Freudenträne.

In der 1. Bundesliga würde hingegen nächste Saison wohl ein Heimspiel gegen den 1. FC Heidenheim winken. Will man das als Hertha-Fan? Gut, das Hauptstadtderby wird fehlen, aber auch dieser Verlust ist verschmerzbar, hatte man dort zuletzt wenig gerissen.

Darüber hinaus kann der geneigte Hertha-Fan nach zehn Jahren in der 1. Bundesliga auch wieder neue Stadien entdecken – oder einfach seine alten Freunde wiedertreffen. Hier darf der Karlsruher SC nicht unerwähnt bleiben. Mit dessen Fanszene verbindet die Herthaner seit den 1970er Jahren eine innige Freundschaft, und der KSC spielt nun mal in jener zweiten Liga. Welcher Herthaner hätte nicht Lust, auf einem von Badischem Wein oder Berliner Bier geschwängerten Fanfest mit einigen KSC-Fans anzustoßen, um in gemeinsamen, erfolgreichen Erinnerungen zu schwelgen? Eben.

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Der negative Druck wäre endlich weg

Und da wäre noch der wichtigste Punkt. Womit wir wieder beim Neville-Zitat vom Anfang wären. Der verdammte negative Druck wäre endlich weg. Klar, Hertha sollte aufgrund seiner Finanzmisere mittelfristig den Wiederaufstieg anpeilen, aber nicht um jeden Preis. Und dass ein großer Traditionsverein in der zweiten Liga überleben und sein Stadion Woche für Woche füllen kann, beweist momentan der Hamburger SV – in seinem fünften Jahr im Unterhaus. Gut, den Spott hat der HSV inklusive. Aber da sollte jeder Fan drüberstehen.

Ich wünsche den Herthanern diesen Abstieg nicht. Deshalb möchte ich denjenigen, die sich nun fragen, was dieser Franke hier für einen Schwachsinn von sich gibt, von wegen "Abstieg als Chance", kurz auf meine letzte Auswärtsfahrt mit dem "Glubb" nach Magdeburg mitnehmen.

Knapp über eine Stunde entspannte Anfahrt per Zug, trotz Bahn-Verspätung noch rechtzeitig in den voll besetzten Auswärtsblock, überragende Stimmung. Überschaubare Schlangen vor Klo und Bierstand. Nach zweimaligem Rückstand zurückgekommen. Punkt mitgenommen. Englische Groundhopper im Zug kennengelernt und über Vereinsliebe philosophiert. Schließlich um 1 Uhr in der Nacht zufrieden ins Bett gefallen. So kann sich die 2. Bundesliga anfühlen.

Sendung: rbb24, 17.05.2023, 18 Uhr

Beitrag von Fabian Friedmann

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