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Video: rbb24 Abendschau | 21.07.2022 | Martin Küper | Studiogast Dr. Timm Kehler | Quelle: rbb

Wirtschaft reagiert auf Gasmangel

Wie sich ein Berliner Pharmaunternehmen aus der Gas-Abhängigkeit lösen will

Angesichts der Lieferunsicherheiten ist der Pharmahersteller Berlin-Chemie dabei, einen Teil seiner Energieversorgung von Gas auf Öl umzustellen, damit die Produktion gesichert ist. Doch ist das nur eine schnelle Notlösung. Von Martin Küper

Die Chemie- und Pharmabranche ist ganz besonders vom Erdgas abhängig: So wurden 2020 deutschlandweit 59 Terrawattstunden (TWh) verbraucht. Zum Vergleich: In der ebenfalls energiehungrigen Metallbranche waren es mit 26 TWh weniger als die Hälfte.

Wird also das Gas knapp, tut es in dieser Branche besonders weh. Bei Berlin-Chemie zum Beispiel, einem der ältesten und größten Berliner Pharmaunternehmen, benötigt man Gas, um damit Wasserdampf zu erzeugen. Mit dem Dampf werden dann die Produktionsmaschinen gereinigt.

Technikvorstand Christian Matschke und sein Team mussten sich nun auf den Notfall einstellen, denn "wenn wir unsere Anlage nicht mehr reinigen können, stehen lebenswichtige Arzneimittel für unsere Patienten weltweit nicht mehr zur Verfügung", so der Manager. Berlin-Chemie entwickelt, produziert und verpackt an seinen zwei Standorten in der Stadt mit etwa 1.500 Mitarbeitern Medikamente vornehmlich für chronisch an Diabetes oder am Herzen erkrankte Patienten.

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Schneller Umstieg

Erdgas dient bei Berlin-Chemie also nicht direkt zur Produktion, sondern zur Energiegewinnung – das gilt für gut drei Viertel des von der Wirtschaft benötigten Gas-Anteils. Die anderen 25 Prozent werden als Rohstoff eingesetzt, in der Chemiebranche zum Beispiel zur Dünger-Produktion. Hier ist ein Umstieg auf andere Stoffe und Produktionsverfahren schwieriger und nicht so schnell umzusetzen wie der Austausch eines Energieträgers.

75 Prozent des in Berlin verbrauchten Erdgases stammen aus den russischen Pipelines, die Abhängigkeit ist also höher als in anderen Regionen Deutschlands und daher der Druck da, wo es geht, schnell umzusteigen. Während Berlin-Chemie am Stammsitz in Adlershof bereits ausschließlich erneuerbare Energie einsetzt, muss die bisher hundertprozentige Gasversorgung des Produktionswerks in Britz schnell umgestellt werden, sagt Christian Matschke: "Wir gehen davon aus, in den nächsten vier bis sechs Wochen alle Anlagen auf den Betrieb von Öl umgestellt zu haben."

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Abhängigkeit bleibt

Aber auch Mineralöl ist kein sicherer Hafen: Immerhin kommen 90 Prozent des von der Berliner Wirtschaft verbrauchten Öls bisher ebenfalls aus Russland. Und hier ist ein Embargo bereits in Sicht, der Umstieg auf andere Lieferanten aber schneller umsetzbar als bei Gas. Daher ist es für Matschke auch nur eine Zwischenlösung: "Wir entwickeln auch Konzepte, in Zukunft noch mehr auf erneuerbare Energien wie zum Beispiel Photovoltaik oder Windkraft zu setzen. Auch Wasserstoff ist ein Thema bei uns."

Eine klimaneutrale Energiewende stand schon lange vor dem Krieg in der Ukraine mit seinen wirtschaftlichen Folgen auf der Agenda der Industrie. CO2-Abgaben und Klimaziele sorgten für den Handlungsdruck, jetzt kommt der Krieg in der Ukraine mit seinen wirtschaftlichen Folgen dazu. Doch in dem jetzt entstandenen Szenario muss in Monaten gedacht werden, und nicht wie bisher, in Jahren. Das Problem: Für den Umstieg auf klimaneutral erzeugten Wasserstoff ist das derzeitige Angebot bei weitem nicht ausreichend. Bevor Unternehmen hier feste Zeitpläne vorlegen können, muss noch sehr viel passieren.

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Schwieriger Wettbewerb

Nicht nur die Chemie- und Pharmaunternehmen fürchten die dritte Stufe des "Notfallplans Gas", wenn aufgrund einer akuten Mangellage die privaten und teilweise auch die öffentlichen Abnehmer den Vorrang erhalten vor der Wirtschaft. Ein Abschalten ganzer Produktionslinien möchte sich niemand vorstellen, und Energieeinsparpotentiale sind, wie bei Berlin-Chemie, schon in den vergangenen Jahren weitgehend ausgeschöpft worden.

Die Hoffnung richtet sich nun auf andere Gaslieferanten und Flüssiggas-Importe. Und gerade da beginnt nun die Preisspirale: Gas ist nicht nur knapp, sondern auch um ein Vielfaches teurer geworden. Da sich Unternehmen zudem auf die Folgen der Inflation, weiterer Rohstoff-Preiserhöhungen und steigender Arbeitskosten einrichten müssen, verschlechtert sich ihre Position im internationalen Wettbewerb deutlich, denn nicht überall wirken sich diese Faktoren so deutlich aus wie hierzulande. In einigen Branchen ist die Gefahr von Produktionsverlagerungen derzeit sehr real.

Bei Berlin-Chemie allerdings will man, so Christian Matschke, den Wettbewerb "sehr selbstbewusst" angehen. Ihm ist in der Hauptstadtregion "nicht bang", dass eine Transformation auch mit Hilfe der Wissenschaft gelingen kann. Es wäre nicht der erste tiefgreifende Umbruch für Berlin-Chemie, das am Adlershofer Standort schon seit mehr als 130 Jahren die verschiedensten Metamorphosen durchgemacht hat.

Sendung: rbb24 Abendschau, 21.07.2022, 19:30 Uhr

Beitrag von Martin Küper

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