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Audio: rbb24 Inforadio | 01.08.2022 | Interview mit Verkehrsforscher Wulf-Holger Arndt | Quelle: dpa/Michael Kappeler

Interview | Verkehrsforscher für ÖPNV

"In 30 Jahren haben wir im Verkehrssystem keine C02-Einsparungen generiert"

Was könnte ein Nachfolgemodell für das Neun-Euro-Ticket werden? Verkehrsforscher Wulf-Holger Arndt plädiert für radikale Lösungen, um in der Klimapolitik voranzukommen - und erklärt, warum Berlin sich ein Beispiel an Luxemburg nehmen sollte.

rbb: Wie hat sich in den letzten 30 Jahren die Erkenntnis zur Nutzung der Öffentlichen Verkehrsmittel entwickelt?

Wulf-Holger Arndt: Gab es viel Fortschritt? Das muss ich mich selbst fragen. Viele Sachen wissen wir eigentlich schon seit Jahrzehnten: Wie Verkehr erzeugt wird. Oder dass neue Verkehrsinfrastruktur wiederum neuen Verkehr erzeugt - und ihn eben nicht reduziert. Im ÖPNV haben wir zumindest technische Entwicklungen, und wir wissen, dass es nicht nur darum geht, die Leute von A nach B zu transportieren, sondern auch komfortabel zu transportieren. Diese Erkenntnis ist in den letzten 20 Jahren schon weit gediehen. Es gab natürlich auch eine Änderung der Verantwortlichkeiten: Jetzt gibt es Ausschreibungen, Privatunternehmen bewerben sich, und es gibt mehr Konkurrenz. Ob das in jeden Einzelfall eine bessere Qualität erzeugt, ist eine andere Frage. Zumindest hat sich das Bild des ÖPNV stark gewandelt und ist auch in den Fokus der Politik geraten. ÖPNV-Politik ist nichts Nebensächliches mehr, sondern ein wichtiger Teil von anderen Politiken - wie zum Beispiel der Klimaschutzpolitik.

Zur Person

In Wien wurde das 365-Euro-Ticket für das ganze Jahr schon vor zehn Jahren eingeführt. Das ist ein Euro pro Tag für den ÖPNV, inwiefern kann man denn dieses Projekt in Wien auf Berlin übertragen?

Wien und Berlin sind relativ gut vergleichbar, auch wenn sich die Topographie unterscheidet. Berlin ist ja relativ flach, in Wien ist es ein bisschen hügliger. Deshalb hat der Fahrradverkehr dort einen geringeren Anteil. Was Wien auszeichnet, ist eine gute ÖPNV-Politik. Man kann dort mit 365-Euro-Ticket für einen Euro pro Tag den öffentlichen Verkehr nutzen, der sehr gut ausgebaut wurde: U-Bahn, Straßenbahn und Busverkehr. Gleichzeitig wurde der Verkehr beruhigt, wie zum Beispiel an der Mariahilfer Straße. Das ist eine wichtige Einkaufsstraße, die in der Mitte eine Fußgängerzone hat und wo an den beiden Seiten vor dieser Zone jeweils mit Begegnungszonen beruhigt worden ist. Das war am Anfang sehr umstritten bei den Anwohnern und den ansässigen Einzelhandelsunternehmen. Das Projekt ist aber so erfolgreich, dass andere große Einkaufsstraßen in Wien auf die Stadt zugekommen sind und gesagt haben: Wir wollen das auch und finanzieren das sogar vor. Weil es viel attraktiver ist, in solchen beruhigten Räumen einzukaufen, gewinnt auch der Einzelhandel. Auf der anderen Seite reduzieren wir den Pkw-Verkehr dadurch. Das ist genau die Politik, die wir brauchen: Einen einfachen Zugang zum ÖPNV - und den hat Wien.

Die Mariahilfer Straße in Wien. | Quelle: dpa/Mirjam Reither

Kann man Wien mit unserer gesamten Region Berlin und Brandenburg vergleichen?

Wien ist ein bisschen kleiner als Berlin, hat aber auch viel Pendlerverkehr aus dem Umland. Das ist immer noch ein Problem für Wien, dass dort viele aus den umliegenden Gemeinden mit dem Auto in die Stadt fahren, um dort zu arbeiten oder andere Tätigkeiten auszuführen. Das haben wir in Berlin auch. Wir haben zwar ein gutes S-Bahn-System in die Umgebung, doch noch immer nicht auf allen Achsen wie 1961. Es gibt trotzdem immer noch viele Leute, die mit dem Auto reinfahren. Das ist das Problem. Wenn man einmal ein Auto besitzt, dann denkt man immer an das Auto und dann fährt man auch immer mit dem Auto, auch wenn es wenig Sinn macht. Das sind Routinen, die wir uns z. B. in unserem Forschungsbereich anschauen. Wie ist das Verkehrsverhalten und was sind die Ursachen des Verkehrsverhaltens? Wie kann man das beeinflussen - auf eine lange Sicht, denn das geht meistens nicht kurzfristig. Wenn wir das Modell Wien übertragen auf unsere Region, geht es auch um die Finanzierung, die dort zum Beispiel über die Parkraumbewirtschaftung läuft. Die ist dort flächendeckend in der Innenstadt, das haben wir in Berlin noch nicht. Die Zonen in Berlin müssten ausgeweitet werden. Und die Stadt Wien selbst investiert sehr viel mehr Geld in gute Ticketangebote. Das müsste Berlin natürlich auch übernehmen.

Nachfolger für das Neun-Euro-Ticket

"Wir brauchen eine radikale Lösung"

Was nach dem Neun-Euro-Ticket kommen soll, wird viel diskutiert. Vorbilder finden sich in unseren Nachbarländern: Ein Mobilitätsforscher der TU Berlin sieht eine Möglichkeit, diese Modelle auch hier umzusetzen. Von W. Siebert und H. Daehler

In Luxemburg gibt es seit 2020 das fahrscheinlose Null-Euro-Fahren, finanziert komplett durch Steuern. Wie wäre das für Berlin oder für Brandenburg?

Bei null Euro würden wir das ganze System des Fahrkartenverkaufs einsparen, die ganzen Automaten einsparen, die Kontrolleure einsparen und so weiter. Das würde dann einen Teil der Kosten finanzieren und die Barriere für die Nutzung wäre noch viel geringer.

Es ist eine Frage der Verteilung des Geldes. Ich denke, es wäre richtig investiert, weil der Verkehr leider seit 1990 seinen CO2-Ausstoß nicht gesenkt hat. In den letzten 30 Jahren haben wir im gesamten Verkehrssystem null Einsparungen an CO2 generiert, müssen aber bis zum Jahr 2030 48 Prozent einsparen. Da brauchen wir auch radikale Maßnahmen wie ein Null-Euro-Ticket zumindest im Nahverkehr, nicht für den Fernverkehr.

Luxemburg ist als kleines Land vergleichbar mit Berlin. In ganz Deutschland haben wir natürlich eine Menge Fernverkehr, da muss man nicht unbedingt ein Null-Euro-Ticket einführen. Aber auf der regionalen Ebene kann man das durchaus machen. In Luxemburg sind 40 Millionen Euro zusätzlich pro Jahr aufzuwenden. Berlin oder andere große Regionen müssten zwar mehr bezahlen, aber sie sparen dadurch auch mehr Pkw-Verkehr. Außerdem gibt auch für Berlin Finanzierungsstudien, wie die Mehrkosten durch Einnahmen aus der Parkraumbewirtschaftung und durch eine Nahverkehrsabgabe für alle, wie die Semetsretickets bei den Studenten heute schon, gegenfinanziert werden können.

Zu welchem Modell würden Sie als Wissenschaftler für Berlin und Brandenburg tendieren?

Ich denke, wir sollten uns über den Null-Euro-Tarif wirklich Gedanken machen. Wir brauchen jetzt radikale Lösungen für die Klimabilanz im Verkehr. Ein Nulltarif wäre wirklich eine klare Markensetzung, dass nämlich dann der ÖPNV einfach zugänglich ist und von allen Leuten genutzt werden kann.

Jede Art von Ticketsystem hat immer die Barriere, dass man sich Gedanken machen muss: Welches Ticket ist das Richtige für mich? Habe ich genug Bargeld dabei? Oder brauche ich dann eine App oder Ähnliches? Der Nulltarif macht den ÖPNV fast so einfach zu benutzen wie ein Auto. Nur den Fahrplan brauchen sie noch.

Welche drei Punkte wären wichtig für den Neun-Euro-Ticket-Nachfolger, egal welcher das wird?

In den ersten Analysen des Neun-Euro-Tickets sieht man, dass es schon eine kleine Verhaltensänderung gab vom Autoverkehr hin zum ÖPNV - allerdings noch relativ gering. Ob neun, 19 oder 29 Euro - das Ticket muss möglichst einfach gestaltet sein, sodass es wirklich für die ganze Region gilt oder übertragbar ist auf andere Regionen. Der Vorteil des Neun-Euro-Tickets ist nicht nur der Preis, sondern dass es deutschlandweit gilt. Ich bin in der Zeit mit meinem Job-Ticket in Cottbus und in Hannover gefahren oder mit irgendwelchen Landbussen ohne mir Gedanken über Tarife zu machen.

Ein Effekt des Neun-Euro-Tickets ist auch noch wichtig: Die soziale Bedeutung des ÖPNV ist nun breites gesellschaftliches Thema. Wir reden drüber, wir reden über den ÖPNV. Diesen Marketingeffekt hat dieses Ticket schon mal geschafft.

Das Interview mit Wulf-Holger Arndt führte Helena Daehler.

Sendung: rbb24 Inforadio, 01.08.2022; 14:10 Uhr

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