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Video: rbb|24 | 12.07.2022 | Material: rbb24 Archiv | Quelle: rbb/Oliver Noffke

Videotheken-Kette schließt in Berlin

Die letzte DVD

Alles ist raus: Die letzte große Videotheken-Kette hat in Berlin dicht gemacht. Zeit für einen Abschiedsrundgang durch eine ferne Epoche, als "nicht zurückgespult" extra gekostet hat. Und durch die unvermeidliche Porno-Ecke. Von Oliver Noffke

Spider-Man hat Staub angesetzt. Indiana Jones blickt ins Leere. Verloren steht der lebensgroße Plastik-Oscar im Weg herum. Seine Proportionen sind etwas schlaff geraten, er sieht erschöpft aus. Immerhin hat er den Wühltisch nicht im Blick. Blu-Rays und DVDs ohne feste Hülle für 50 Cent das Stück.

Sonntagabend kurz vor 23 Uhr, Nähe Bahnhof Greifswalder Straße; in wenigen Minuten schließt die letzte große Videotheken-Kette in Berlin ihre allerletzte Filiale. Im ganzen Laden, weit wie ein Kinosaal, wühlt sich lediglich ein halbes Dutzend Filmfreunde durch das verbliebene Sortiment. "DVD's und Blu-Ray's – 10 Stück 15 Euro" schreit es von selbstgemalten Plakaten aus jeder Ecke. Den beiden Mitarbeitern stehen die Tränen in den Augen. Eine Frau stopft hastig zwei Hände voll DVDs in ihren Jutebeutel. Auf Batmans gemeißeltem Kinn flackert das Licht der Leuchtbuchstaben an der Fassade. Einige sind seit Jahren defekt.

Eine komplette Generation verloren

Diese Videothek und ich, wir sind etwa gleichzeitig in Berlin angekommen. Ich vor zehn Jahren aus Hamburg, die Videothek parallel aus der aufgerissenen Grünanlage vor einem Discounter. Als sich herausstellte, dass in den eleganten, zweistöckigen Rundbau weder eine Apotheke noch ein Bio-Supermarkt einzieht, war ich baff. Eine Videothek? Jetzt noch?

Die öffentlich-rechtlichen und privaten Fernsehsender hatten lange begonnen, ihre Programme ins Netz zu stellen. Livestreams waren schaubar. Illegale Streams super populär. Wieso aufstehen und zahlen, wenn man das googeln kann, so die Haltung vieler. Zumindest die internetaffine Generation schien dem Konzept, Filme in einem Geschäft auszuleihen, vollkommen entflohen. Mein Laptop, mein Leben.

Meinen letzten Fernseher habe ich … (Liebe Kolleginnen und Kollegen aus den TV-Redaktionen, bei den folgenden Worten müsst ihr tapfer sein:) … vor mehr als zehn Jahren von der Kabelbuchse getrennt, in den Keller gestellt und Monate später beim Umzug nicht vermisst. Ich bin mir fast sicher, irgendwer schuldet mir noch Geld für das Ding. C'est la vie.

Netflix killed the Videostore

Es lag damals in der Luft, dass sich Hollywood, den anhaltenden Diebstahl an seinem geistigen Eigentum nicht länger gefallen lassen wird. Amerikas Filmindustrie war wütend. Im Januar 2012 wurde Mega-Upload-Betreiber Kim Dotcom festgesetzt. Ein nach Neuseeland ausgewanderter Deutscher, der durch dreiste Raubkopien zum Multimillionär geworden war. Aber was nun? Einfach alle juristisch zu verfolgen, holt niemanden aus dem Internet raus und ins Kino zurück. Apple hatte zu diesem Zeitpunkt eindrucksvoll gezeigt, dass Leute für digitale Musik Geld ausgeben, wenn das Angebot stimmt. Wer würde also etwas vergleichbares für Filme auf die Beine stellen?

Diese Frage beantwortete Netflix kurze Zeit später mit zwei harten rechten Schlägen. Am 1. Februar 2013 kam "House of Cards" heraus, im Juli "Orange is the New Black". Der schiere Pomp dieser Serien erschütterte die Branche und hinterließ schwere Verwerfungen. Oscar-Preisträger in Rollen und auf den Regiestühlen von Serien, denen nie dagewesene Budgets gegönnt wurden. Harte Themen, süffisant erzählt mit Kino-Ästhetik. Und das aus einem Land, dessen frei empfangbare Fernsehsender seit Jahrzehnten auf Weichgespültes gesetzt hatten, bei denen eine Folge der nächsten gleicht.

Doch der K.o.-Schlag war das Selbstbewusstsein, mit dem Netflix in den Ring gesprungen war. Alle Episoden sofort verfügbar. Keine festen Zeiten mehr. Kein Warten bis nächsten Dienstag, um zu wissen, wie es weiter geht. Binge-Watching. Der Hype war da. Und ist ironischerweise genau das, was Netflix zuletzt ins Schlingern gebracht hat. Mit dem alten Konzept von einer Folge pro Woche zeigt Disney+ aktuell, wie man die Aufmerksamkeit von Serienfans monatelang am Köcheln halten kann. Nach Jahren der Dominanz muss sich plötzlich Netflix anpassen.

Immer verliehen. Weg. Verschollen!

Sonntagmittag kurz nach 12 Uhr. Vor wenigen Minuten hat die Videothek an der Greifswalder Straße zum letzten Mal ihre Tür geöffnet. Der Wind schlägt die beiden gigantischen Plakate wie lose Segel gegen die Fassade. "Alles muss raus", plärren sie in die Straße. Der Wühltisch steht direkt am Eingang. Zwei Quadratmeter Filmfriedhof.

Die Frühschicht, ein Mann Anfang 30 mit bleicher Haut, rennt gestresst zwischen den Regalen hin und her. Ihr Inhalt scheint nach keinem klaren System mehr geordnet zu sein. Die RomCom "Wie werde ich ihn los in 10 Tagen" steht neben einem Film mit Colin Farrell, von dem ich noch nie etwas gehört habe. "Dead Man Down", was zum Entspannen. Daneben "Being John Malkovich". Mich trifft ein Schlag. Dieser Film war in meiner Videothek früher nie zu haben. Immer verliehen. Weg. Verschollen! Was für eine Strafgebühr muss auf diesem Chip bloß gelegen haben? Ich kaufe einen Schokoriegel und verlasse den Laden erstmal.

Quelle: rbb/Oliver Noffke

Tagelanges Hoffen auf ein Exemplar von "Jurassic Park"

Eine ostdeutsche Kleinstadt Mitte der Neunziger. Die alten Lichtspielhäuser sind dicht, das nächste Cinestar oder Cinemaxx ist zu weit entfernt, um nach der Schule noch mit dem Bus dorthin zu kutschen. Also mit Papas Mitgliedsausweis in die Videothek. Damals, als nicht zurückgespulte Kassetten abzugeben, noch 50 Pfennig Gebühr gekostet hat. Damals, als der Video-Release oft noch ein Jahr oder länger nach dem Kinostart stattfand. Damals, als es umso nerviger war, tagelang vergebens auf ein Exemplar von "Jurassic Park" zu hoffen. Immer vergriffen. Damals, als Lichtgestalten des Indyfilms wie Quentin Tarantino oder Kevin Smith ihre Karrieren als Videotheken-Nerds begannen.

Dieser Ort war die Schlechtwetterbeschäftigung meiner Kumpels und mir. Wir wussten, wann welcher Blockbuster in die Regale kam. Schließlich stand das schon Wochen vorher in der "TV Movie" (Die mit dem Moviestar) oder der "Cinema" oder - ja, muss leider auch genannt werden - der "Bravo". Wir wussten, welche Mitarbeiter ein Fass aufmachten, wenn wir uns hinter den Ab-18-Vorhang schlichen. Und wer ein Auge zudrückte, so lange der Chef nicht da war.

Die unvermeidliche Porno-Ecke

"Für Sie gilt das auch." Der Mitarbeiter reißt mich aus meinem ziellosen Suchen durch die Auslage. Ich kenne vieles nicht. Die besten Filme scheinen noch verkauft worden zu sein. "Wir schließen in 15 Minuten." Derber Metal knallt durch den Laden. "Spiel, was du willst", sagt der eine Mitarbeiter zum anderen. Ich gehe über die weite Wendeltreppe in die zweite Etage. Vorbei am verstaubten Spider-Man und seiner Nemesis Venom, die beide von der Decke hängen. Oben ist eine Seite des Raumes bereits frei geräumt. Die Regale stehen chaotisch zusammengeschoben. Staub flirrt in der Luft. Wände voller ausgebleichter Horrorfilme.

In der unvermeidlichen Porno-Ecke fühle ich mich wie ein Tourist, der sich in ein Eventkunstwerk verlaufen hat. Die Masse an Fleisch-Etiketten mit Stöhngesichtern überfordert mich. Dass ich so aus der Mitte des Raumes heraus dumm glotze, überfordert wiederum zwei Gekrümmte, die in den Ecken noch ein Schnäppchen suchen. Ich denke an viele schöne Runden "Wer lacht, verliert" auf St. Pauli. Alle lesen nacheinander den möglichst beklopptesten Namen eines Sexfilmchens vor. Wer zuerst lacht, zahlt die nächste Runde auf der Reeperbahn. Ewig her. Und nun frage ich mich: Nicht-Internetpornos – sowas gab es ernsthaft bis jetzt?

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"A fucking video store, you're joking"

Obwohl wir beide gleichzeitig in Berlin ankamen und uns anfangs oft sahen, wurde die Verbindung zwischen mir und der Videothek am Greifswalder Bahnhof bald brüchiger. Der letzte Film, den ich dort ausgeliehen habe, war "Almanya – Willkommen in Deutschland". Das muss irgendwann im Sommer 2015 gewesen sein. Ein paar Wochen später ging mein Rechner unrettbar in die Knie. Der Nachfolger kannte kein DVD-Laufwerk mehr.

Für ein kühles Bier oder eine Tüte Chips bin ich ab und zu noch vorbeigekommen. Das Snackangebot wurde in den folgenden Jahren breiter, die Kundschaft dünnte sich aus. Als vor Kurzem die Getränkekühlschränke aus der Mitte des Ladens verschwunden waren, wusste ich: Das war's also.

Ein Videotheken-Neubau im 21. Jahrhundert - von Beginn an kam mir dieser spezielle Laden wie ein Anachronimus vor. Wenn Freunde aus anderen Ländern zu Besuch kamen, schüttelten die sich manchmal vor Kichern beim Anblick von "a fucking video store, you're joking" - und machten Beweisfotos von dieser altertümlichen Technik, die in Deutschland noch Benutzung fand. Dennoch hielt die Videothek durch.

Einer der beiden Mitarbeiter klackert mit dem Schlüssel. Seine Augen sind gerötet. Er schließt den linken Flügel der Tür und dreht sich noch einmal in den Laden. Sein Blick schweift die gesamte Fläche. Die helle Seite sieht aus wie eine durchlebte Videothek, die nur vernünftig aufgeräumt werden muss. Die andere Seite, als hätte eine Druckwelle alles weggepustet. Duster und leer.

Eine Frau im schwarzen Hoody legt einen Stapel DVD-Hüllen vor die Kasse. Ein Mann Mitte 50 verabschiedet sich an der Theke. "Schade." - "Ja, sehr schade." Beim Rausgehen murmel ich den Mitarbeiter an der Tür etwas betreten an und frage, ob es noch andere Filialen gibt. "Nein, das war die letzte in Berlin, die letzte dieser Kette."

Beitrag von Oliver Noffke

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