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Video: "Kinder in Not" - rbb Fernsehen | 27.04.2022 | Norbert Siegmund | Quelle: rbb

Interview | Mitarbeiterin Berliner Jugendamt

"Kinder sind traumatisiert, aber es gibt keine ausreichenden Angebote"

Mehr Gewalt in Familien und zunehmende Verwahrlosung: Das Kriseninterventionsteam des Jugendamts Marzahn‑Hellersdorf kämpft täglich für das Wohl betroffener Kinder. Eine Mitarbeiterin spricht über ihren Job zwischen Einsparungen und dem Willen, zu helfen.

rbb: Frau Schauer, viele Unternehmen haben durch die Pandemie große Probleme bekommen. Wie dramatisch ist die Situation denn im Sozialbereich?

Anja Schauer: Es war ohnehin nicht genug Personal da, auch schon vor der Pandemie nicht. Während des Lockdowns und in der Zeit dazwischen waren viele Kollegen im Home-Office, es fanden eingeschränkte Sprechzeiten statt bis hin zu Schließungen, so dass Familien sich im Prinzip auch nicht so wie vorher an uns wenden konnten. Und damit verbunden ist natürlich weniger Fallbearbeitung der Kollegen. Wenn man nicht im Dienst ist, kann man eben den Kinderschutz nicht wie vorher bearbeiten.

Stichwort Personal: Nun wird schon viele Jahre bemängelt, dass die Jugendämter unterbesetzt sind. Warum wird das nicht verbessert? Was sagt man Ihnen, wenn sie nachfragen?

Wenn ich nachfrage? Na ja, dann würde ich mal die Frage umdrehen und sagen: Ich denke, dass das Interesse gar nicht da ist, da was zu verbessern oder nicht ausreichend zu verbessern. Denn für andere Dinge gibt es durchaus Geld in Berlin. Es werden Projekte finanziert, und ich denke, das liegt an einer Art Prioritätensetzung, was hier finanziert wird oder was gedacht wird, was wichtig ist und der Kinderschutz fällt da hinten runter.

TV-Tipp

"Kinder in Not - Mit den Krisenhelfern des Jugendamts unterwegs"

Sie haben auch mal die Seiten gewechselt, haben sich als Referentin in einem Fachverband verstärkt um Bürokratie gekümmert. Aber dann sind sie doch wieder zur "Arbeit auf der Straße" zurückgekehrt. Warum?

Naja, weil ich gemerkt habe, dass es auf der fachlichen oder fachpolitischen Ebene tatsächlich eher um Kostenstellen geht, um Einsparungen. Und das konnte ich mit mir nicht vereinbaren. Sachzwänge, die mich dazu veranlassen, irgendwo zu sparen. Und irgendwo heißt dann eben am Kind oder der Familie – das war für mich jetzt nicht die Erfüllung. Und natürlich hat mir auch mein Team gefehlt. Also das war schon die Erfahrung, dass ich völlig weg bin von dem Bewirken von Veränderungen.

Dann kommt dennoch bei den Leuten, die dann die Arbeit machen wie Sie – also auf der Straße – weniger Geld an. Machen Sie Überstunden?

Wir machen ohne Ende Überstunden. Das ist tatsächlich so. Wir schleppen uns krank zur Arbeit, wir gehen mit Bandscheibenschaden, Bronchitis und Kopfschmerzen zur Arbeit, um das hier gewährleisten zu können. Weil man natürlich immer auch weiß, was da dranhängt. Da hängen tatsächlich Menschenleben dran, und natürlich auch die Kollegen, die dann mehr Arbeit haben und die eigenen Fälle mit bearbeiten müssen.

Anja Schauer | Quelle: rbb

Was macht Ihnen Hoffnung, dass sich die Gesamtsituation für hilfsbedürftige Kinder wieder verbessern wird, wenn die Pandemie irgendwann mal vorbei sein sollte?

Ich muss persönlich sagen: Ich habe da wenig Hoffnung, da wie gesagt auch vor der Pandemie die Situation dramatisch war. Es gab tatsächlich vorher schon über Jahre Proteste. Immer wieder wurde darauf hingewiesen, dass der Kinderschutz nicht ausreichend gewährleistet werden kann, weil wir zu wenige Kollegen sind, weil es keine Langzeitmaßnahmen gibt. Es gibt fehlende Plätze in Berlin für Anschlusshilfen. Das heißt, wenn Kinder untergebracht werden müssen, telefonieren wir uns die Finger wund. Es gibt viel zu wenig Therapieplätze in Berlin. In den Kinder- und Jugendpsychiatrien sieht es furchtbar aus. Kinder sind traumatisiert, es gibt aber keine entsprechenden ausreichenden Angebote.

Infos im Netz

Kriseninterventionsteam Marzahn-Hellersdorf

Wenn Kinder in solch schwierigen Verhältnissen aufwachsen, hat das auch Auswirkungen auf deren Erwachsenenleben. Wie groß ist die gesellschaftliche Hypothek, die wir da jahrzehntelang noch tragen müssen?

Sicherlich gibt es die erstmal, weil der Sozialstaat so eingerichtet ist, entsprechende Leistungen Familien zukommen zu lassen. Und jeder einzelne von uns trägt diese Leistungen, beziehungsweise bezahlt dafür aus eigener Tasche. Aber viel interessanter ist ja eben die Frage: Wie kommt es überhaupt dazu, dass Kinder in solch schwierigen Verhältnissen aufwachsen, die geprägt sind von Sucht, Gewalt, Schulden und Depressionen? Und was tut die Gesellschaft, um das zu verändern? Das sind die viel wichtigeren Fragen.

Vielen Dank für das Gespräch.

Mit Anja Schauer sprach Marco Seiffert für Radioeins. Das Interview ist eine redigierte und leicht gekürzte Fassung.

Sendung: rbb Fernsehen, 27.04.2022, 22:30 Uhr

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