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Audio: Antenne Brandenburg | 08.09.2022 | Tina-Marlu Kramhoeller | Quelle: dpa/A. Warnecke

Weltalphabetisierungstag

"Es trifft oft diejenigen, die in der Schule mitgeschleift wurden"

Lesen und Schreiben fällt ihnen so schwer, dass der Alltag zur Herausforderung wird. Hundertausende Menschen in Berlin und Brandenburg sind von Analphabetismus betroffen. Zu spät zum Lernen ist es aber nicht. Von Hasan Gökkaya, Marie Röder und Yasser Speck

Stellen Sie sich vor, Sie wollen eine Fahrkarte am Automaten kaufen und können einfachen Anweisungen auf dem Display nicht folgen. Stellen Sie sich vor, Sie kriegen eine Whatsapp-Nachricht und können nicht antworten. Stellen Sie sich vor, Sie wollen Ihrem Kind eine Gute-Nacht-Geschichte vorlesen, stocken aber bei jedem dritten Wort. So geht es Hunderttausenden Menschen in Berlin und Brandenburg, jeden Tag.

Von Analphabetismus sind in Deutschland viel mehr Menschen betroffen, als in der Gesellschaft wahrgenommen wird. Der Weltalphabetisierungstag an diesem Donnerstag soll deshalb auf die 6,2 Millionen Menschen in der Bundesrepublik aufmerksam machen, die wegen Defiziten beim Lesen und Schreiben ihren Alltag nur schwer meistern können, Scham entwickeln und für große Teile des Arbeitsmarktes nicht zur Verfügung stehen.

Wie groß das Problem in einem der modernsten und reichsten Länder der Welt ist, wurde erst spät bemerkt. Erst 2011 wurde durch die "LEO"-Studie der Universität Hamburg klar, dass 7,5 Millionen Menschen betroffen sind – bis dahin wurde von halb so vielen ausgegangen. 2018 ermittelte eine zweite "LEO"-Studie 6,2 Millionen Menschen [mein-schlüssel-zur-welt.de]; einer der Gründe für die Abnahme ist, dass viele Senioren inzwischen nicht mehr dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen.

Die Zahlen beziehen sich nämlich nur auf die Gruppe der Erwerbsfähigen: Aktuell ist also bundesweit mehr als jeder Achte nicht in der Lage, auf einem üblichen Niveau zu lesen und zu schreiben. Zudem stellen – anders als im globalen Maßstab - in Deutschland Männer mit 58 Prozent die Mehrheit der Analphabeten. Im Fachjargon ist von "gering literalisierten Erwachsenen" die Rede, um Stigmatisierungen vorzubeugen.

Die Kreuzbergerin Ute Holschumacher ist heute 60 Jahre alt. Es ist erst neun Jahre her, dass sie lesen und schreiben gelernt hat. Dafür besuchte sie über mehrere Jahre Alphabetisierungskurse in dem Berliner Verein Lesen & Schreiben [lesen-schreiben.com] und an der Volkshochschule. Bis dahin erlebte sie viele schwierige Momente in ihrem Leben. "Einmal saß ich in einer Arztpraxis und sollte den Anamnese-Bogen ausfüllen. Das konnte ich aber nicht, ich habe ja nicht verstanden, was da steht. Die Schwester kam dreimal rein und hat nachgefragt. Da bin ich aufgesprungen, hab den Bogen auf den Tresen geknallt und bin heulend aus der Praxis. So war das früher oft", sagt Holschumacher.

"AlphaDekade 2016-2026" soll besseres Klima schaffen

Wie vielen Menschen es wie Ute Holschumacher in Berlin und Brandenburg geht, ist nicht konkret ermittelt. Wird aber von einem gleichen Anteil von Menschen mit geringer Schriftsprachkompetenz an Erwerbsfähigen ausgegangen wie bundesweit, liegt die Zahl der Betroffenen in der Mark bei rund 180.000, schätzt das Bildungsministerium Brandenburg. Wendet man diese Rechnung auf Berlin an, dürfte es mindestens 300.000 Menschen in der Hauptstadt geben, die nicht auf dem üblichen Niveau lesen und schreiben können, schätzt Urda Thiessen vom Verein Lesen & Schreiben. "Das sind ungefähr so viele Menschen wie Neukölln Einwohner hat", sagt sie.

Um mehr Betroffene zu erreichen, wurde 2016 die "AlphaDekade 2016-2026" [alphadekade.de] ausgerufen. Der Zusammenschluss aus Bund und Ländern will bis 2026 ein besseres Klima für Betroffene schaffen, etwa durch Kooperationen mit Sozialverbänden, Ausgabe von Lernmaterialien für Erwachsene und Sensibilisierung der Öffentlichkeit.

Das Zurückbleiben in der Schule gehört zu den Hauptgründen, warum Menschen starke Defizite beim Lesen und Schreiben haben. So war das auch bei der 60-jährigen Ute Holschumacher, deren Schulzeit auch von Gewalt und Lustlosigkeit geprägt war. Zudem habe aber auch der familiäre Rückhalt gefehlt: "Ich bin in einer Familie mit neun Kindern aufgewachsen. Mein Vater war Alkoholiker. Als wir ihn zu Hause gebraucht haben, war er in der Kneipe. Meine Mutter hat gearbeitet und konnte mich nicht unterstützen, als ich Lesen und Schreiben lernen sollte. Dann kam ich auf die Sonderschule. Da bin ich mit demselben Stand rausgekommen, wie ich reingekommen bin", sagt Holschumacher.

Im Laufe ihres Lebens habe Scham eine immer größere Rolle gespielt. "Ich habe mich zurückgezogen. Ich hatte vorher auch die Erfahrung gemacht, dass mich andere ablehnen. Ich war ausgegrenzt."

"Es trifft oft diejenigen, die in der Schule 'mitgeschleift' wurden"

Claudia Löwenberg vom Brandenburgischen Volkshochschulverband sind solche Lebenswege bekannt. "Es trifft die unterschiedlichsten Bevölkerungsgruppen. Zum Beispiel Menschen, die die Schule bereits nach acht Jahren verlassen haben und während ihrer Schulzeit nur ganz schlecht lesen und schreiben gelernt haben. Also diejenigen, die nur so 'mitgeschleift' wurden". Außerdem seien auch nach Deutschland Zugezogene sowie Menschen betroffen, die aufgrund von Krankheiten ihre Schreib- und Lesefähigkeit verloren hätten.

Gundula Frieling, stellvertretende Direktorin des Deutschen Volkshochschul-Verbands, warnt aber vor einem falschen Eindruck: "Das sind oft qualifizierte Menschen, die einem Handwerk nachgehen", sagt sie. Frieling hebt zudem hervor, dass 62 Prozent derjenigen mit Problemen beim Lesen und Schreiben erwerbstätig sind. Sehr viele Betroffene seien im Baugewerbe, in der Logistik, der Gastronomie oder im Reinigungsgewerbe beschäftigt.

Verband fordert kostenlose Förderung als Regelfall

Da aber auch ein Hausmeister heute zunehmend mit einem Tablet umgehen können muss, steigt der Druck, Defizite in der Schriftsprache sowie beim Verständnis von Zahlen und Mengen zu verbessern. Dafür gibt es Angebote, die in der Region größtenteils kostenlos sind. Wer sich als Erwachsener wie Ute Holschumacher helfen lassen will, kann Kurse in Vereinen sowie Volkshochschulen besuchen. "In Brandenburg sind diese kostenfrei. Das ist auch wichtig, sonst wäre eine größere Hemmschwelle für die Lernenden da", sagt Löwenberg. Auch in Berlin ist das in der Regel der Fall.

Offenbar steht die Region damit im bundesweiten Vergleich nicht schlecht dar. Denn dem Deutschen Volkshochschul-Verband zufolge müssen Teilnehmer in manchen Bundesländern für die Alphabetisierungskurse zahlen - denn Bildung ist bekanntlich Ländersache. Zudem würden Jobcenter die Teilnahme an Lese-, Schreib- und Rechenkursen nur in Einzelfällen finanzieren, sagt Vizedirektorin Frieling. Der Verband fordert: Förderungen muss zum Regelfall werden.

Teilnehmerzahl in Kursen noch gering

In Berlin und Brandenburg ist aber durchaus noch Luft nach oben. Bundesweit besuchen jährlich lediglich 20.000 bis 25.000 Menschen die Alphabetisierungskurse in Volkshochschulen - gemessen an der Zahl der betroffenen Gruppe der Erwerbsfähigen ist das wenig. Auch der Berliner Verein Lesen und Schreiben, der finanziell vom Senat unterstützt wird, könnte mehr Teilnehmerinnen und Teilnehmern helfen. "Derzeit haben wir in unseren Kursen etwa 30 Leute, dabei haben wir deutlich mehr Kapazitäten", sagt Urda Thiessen.

Sie betont, dass es dabei in erster Linie gar nicht unbedingt ums Lesen und Schreiben gehe. "Uns ist es wichtig, das Selbstwertgefühl der Menschen zu verbessern. Die wenigsten werden so weit kommen, dass sie eine Super-Rechtschreibung haben. Aber viele denken eben auch, sie seien die einzigen mit diesem Problem. In unseren Kursen merken sie, dass das nicht so ist. Es ist uns wichtig, dass Selbstbewusstsein dieser Menschen und ihre Demokratieteilhabe zu stärken."

Sendung:

Beitrag von Hasan Gökkaya, Marie Röder, Yasser Speck

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