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Quelle: dpa/Steinberg

Der Absacker

Liebe kaputte Stadt

Am 1. Mai wird besonders spürbar, was gerade in Berlin fehlt. Statt bunten Demos und Treiben auf der Straße herrschen betäubende Ruhe und einzelne Krawallmacher. Dass das nach Corona wieder anders wird, hofft Haluka Maier-Borst.

"Ach, Berlin."

Es gibt so viele Arten und Gelegenheiten, diese zwei Worte über dich zu sagen. Wenn man wieder Stunden am Bürgeramt ansteht. Wenn der Busfahrer beim Sprint zur Halte einen hoffen lässt, aber dann, kurz bevor die Fingerspitzen die Bustür erreichen, ein lautes 'Pffft' die Luft aus dieser Illusion rauslässt. Die Tür schließt sich und der Bus fährt ohne einen los. Oder aber, wenn wieder mal etwas nicht geht, wahlweise der Flughafen oder eine deiner Rolltreppen. Wobei: Das mit dem BER soll sich ja jetzt erledigt haben. Ach, Berlin.

Aber es gibt auch Momente, wenn diese Worte kein erschöpftes Seufzen sind, sondern ein Aufatmen darüber hier zu sein. Weil zwei Bauarbeiter ihr Schultheiss wegstellen, um einer Familie zu helfen, den Kinderwagen über die kaputte Rolltreppe zu tragen. Weil der Döner hier besser schmeckt als woanders. Weil der 1. Mai ein besonderer Tag ist, um durch deine Straßen zu ziehen. Ja, mit ein bisschen Glück sieht man am Ende sogar die Sonne über der Oberbaumbrücke untergehen und jemand auf einem Fahrradanhänger packt Boxen und DJ-Deck aus und legt auf. Ganz spontan.

1. Was vom Tag bleibt

So etwas kann an diesem 1. Mai eigentlich nicht stattfinden. Zwar haben sich die Leute in deinen Parks gesammelt und vereinzelt gibt es auch kleine Demos. Aber der 1. Mai ist nicht der Tag, der er sonst ist. Die große Mehrheit hat Verständnis dafür und trotzdem fühlt sich diese Ruhe komisch an.

Nur Ankündigungen der linken Szene, Katz und Maus mit der Polizei zu spielen, könnten noch für Aufregung sorgen. Und es gab bereits vereinzelte Übergriffe gegenüber Journalisten. Wie der Tag verläuft, kann man übrigens hier nachlesen.

2. Abschalten.

Also kein langer Zug durch deine Straßen für mich heute, liebe Stadt. Entsprechend habe ich mir ein Ersatzprogramm zusammengestellt, das man auch gerne zeitversetzt oder morgen durchspielen kann. Menemen selbst gekocht [sonachgefuehl.de] und Frühsets-Fernsehen vom DJ-Duo "Mehr is Mehr" angehört.

Später bin ich dann mit einer Freundin ganz regelkonform spazieren gewesen und setze mich jetzt abends unter meine heimische Diskokugel und gebe mir die 1.-Mai-Edition von "UnitedWeStream" [unitedwestream.org]. Übrigens, die Aktion ist mal wieder ein schöner Beweis dafür, dass alle dir nacheifern. Denn nachdem es "United We Stream" hier gab, gibt es inzwischen auch Ableger der Aktion in Hamburg, Bayern, Wien, Stuttgart, der Rhein-Neckar-Region, Leipzig, Manchester, Amsterdam und Bremen. Mag sein, dass es anderswo schöner ist. Aber du, Berlin, bleibst halt 'ne Marke. 

Und was mir ein bisschen Hoffnung macht, ist, dass die Leute hier nach wie vor ein wenig bekloppt sind. So erklärt sich auch, dass zwei Freunde von mir (hallo Marc Anthony, hallo Kathi) auf die Idee kamen, eine Techno-Version von "Versuch's mal mit Gemütlichkeit"[soundcloud.com] zu produzieren, die zumindest bei uns im Freundeskreis für viel Heiterkeit sorgte. 

Wer ich bin

Großstadtchaos statt Alpenpanorama, Brandenburger Seen statt britisches Meer. Haluka Maier-Borst war schon an ein paar Orten und hat immer die falsch-richtige Wahl getroffen. Für Berlin. Jetzt sitzt er im Wedding - und mehr oder weniger fest. Denn nach einer Reise in die Schweiz war er zunächst für zwei Wochen in Heimquarantäne. Und jetzt hält er sich natürlich auch an das Kontaktverbot. Jeden Tag gegen acht genehmigen er und seine Kollegen sich einen Absacker und gönnen sich eine kleine Pause von der Nachrichtenlage.

3. Und, wie geht's?

Passend zum 1. Mai vielleicht mal die Sicht von einer "deiner Gören", liebes Berlin.

Ute schreibt uns:

'Und wie kommen Sie so damit klar, dass Ihr Arbeitgeber Geld in die Hand nimmt um die Bude offen zu lassen und Ihren Job zu erhalten?' 

Prima eigentlich. Und wenn ich mir den Verkehr zur Rush Hour angucke, scheint es auch anderen so zu gehen. Vielleicht wäre das mal eine Zeile wert.

Unternehmen ohne Systemrelevanz verzichten bewusst auf Gewinnmaximierung, um die Belegschaft zu schützen. Arbeitgeber nehmen die Fürsorgepflicht ernst. Davon gibt es in der Region einige, aber die funktionieren ja nur. Von der "geistigen Elite", die den Verlust der Tagesstruktur im Home Office  beklagt, habe ich auf jeden Fall inzwischen genug gehört. 

Und falls noch andere Gören und echte Berliner sich zu Wort melden wollen, bitte gerne an: haluka.maier-borst@rbb-online.de

4. Ein weites Feld ...

Ich weiß, es trifft dich gerade (etwa wirtschaftlich) besonders hart. Vieles von dir, woran ich hänge, ist in Gefahr. Diese Woche ist zum Beispiel noch zu allem Übel die Ipse offenbar abgebrannt. Mir bleibt nur zu hoffen, dass wir einander helfen können. Und wir uns irgendwie über die Runden retten. Damit künftig du, liebe Stadt, wieder im besten Sinne etwas kaputt und zugleich wieder intakt bist.

Bis morgen, bleiben wir drinnen und Prost auf dich, sagt

Haluka Maier-Borst

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