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Audio: Radioeins | 30.04.2021 | Bernd Siggelkow im Interview | Quelle: imago images/Petra Schneider-Schmelzer

Interview | "Arche"-Gründer Bernd Siggelkow

"Das Aggressionspotential ist natürlich gewachsen"

Nach einem Jahr Pandemie liegen in vielen Familien die Nerven blank. Seit langem warnt Bernd Siggelkow vom Berliner Kinderprojekt "Arche" davor, dass die Gewalt während der Corona-Krise zunehmen könnte. Inzwischen fühlt er sich bestätigt, wie er im rbb berichtet.

Mit dem "Tag der gewaltfreien Erziehung" am 30. April will der Kinderschutzbund an das Recht der Kinder auf eine Erziehung ohne physische und psychische Gewalt erinnern. Doch über ein Jahr Pandemie hat Spuren hinterlassen - auch in Familien. Kinderschützer warnen, dass vor allem dort, wo es schon vor Corona Probleme gab, die Lage eskalieren könnte. Der rbb-Sender Radioeins hat mit dem Gründer des Berliner Kinderprojekts "Die Arche", Bernd Siggelkow, gesprochen.

Zur Person

Bernd Siggelkow

Bernd Siggelkow ist gelernter Kaufmann. Nachdem er einige Zeit als Vertriebsbeauftrager im Außendienst tätig war, hat er eine theologische Ausbildung bei der Heilsarmee absolviert und einige Jahre als Jugendpastor gearbeitet. Im Jahr 1995 gründete er in Berlin-Hellersdorf das christliche Kinder- und Jugendwerk "Die Arche" [kinderprojekt-arche.de]. Siggelkow ist verheiratet und Vater von sechs Kindern. Er erhielt für seine Arbeit den "Verdienstorden des Landes Berlin".

rbb: Herr Siggelkow, Sie warnen quasi von Anfang an vor den negativen Folgen der Pandemie für Kinder. Welche Befürchtungen haben sich inzwischen bewahrheitet? Was beobachten Sie in den Familien nach über einem Jahr?

Bernd Siggelkow: Das Aggressionspotential ist natürlich gewachsen. Die Kinder sind zuhause isoliert, sitzen den ganzen Tag nur noch vorm PC und wissen nichts mit sich etwas anzufangen. Viele kommen mit sich selbst nicht mehr klar, viele haben zugenommen, weil sie sich eben zu wenig bewegen. Und sie wohnen oft auch auf engstem Raum zusammen, und das führt natürlich ganz schnell dazu, dass die Lage ganz schnell eskaliert.

Aber woher wissen Sie denn, wie es in den Familien aussieht?

Wir haben ja sofort nach dem ersten Lockdown unser ganzes Programm umgestellt und sind dann zu den Menschen nach Hause gefahren. Vorher haben die Kinder in der Arche oder in der Schule gegessen, dann fehlte das Geld und wir haben das Essen nach Hause gebracht. Wir sind im Prinzip seitdem als moralische Unterstützung an der Haustür. Wir haben jeden Tag Kontakt über Telefon, über Live-Chats, oder wir haben kleine Gruppen von Kindern auch in der Arche. Aber jedes Kind kann maximal alle zehn Tage kommen. Das ist natürlich schlecht für die Kinder, aber wir haben trotzdem einen sehr tiefen Einblick.

Es heißt, in der Pandemie steigt der Stresspegel. Wie wirkt sich das konkret auf Familien aus? Welche neuen Probleme sind hinzugekommen?

Fangen wir mal an beim Homeschooling: Die Kinder sind teilweise jetzt noch schlechter in der Schule als im Februar 2020, weil sie nicht gefördert worden sind, weil die Lust fehlt. Und die Eltern sind eben keine Lehrer. Unsere Kinder leben ja meistens in Großfamilien mit drei, vier, fünf, sechs Geschwistern. Und das schafft eine Einzelperson, also eine alleinerziehende Mutter, nicht. Das führt dazu, dass die Kinder merken, sie kommen nicht mehr mit, sie sind lustlos, die Geschwister zanken sich untereinander. Dann darf man ja keine Freunde mehr einladen oder man geht nur noch begrenzt raus. Und dann wird die Luft nach oben immer dünner, dann schreit man sich nicht nur an.

Ich habe schon eine Situation gehabt, da hat ein achtjähriges Mädchen versucht, ihre Mutter zu erwürgen. Situationen, wo Eltern anrufen oder Kinder anrufen und sagen, dass sie einfach nicht mehr können.

Bernd Siggelkow mit ein paar seiner kleinen Schützlinge. | Quelle: Wolf Siebert

Und was machen Sie da konkret, wenn Sie dann da hinfahren? Wenn eine Achtjährige versucht, ihre Mutter zu erwürgen, dann sind das ja schreckliche Zustände. Was können Sie da tun?

Auf jeden Fall reden. Die Kinder sind ja schon froh, und auch die Eltern, dass sie ein Gegenüber haben, mit den sie sich unterhalten können. Die Verwandtschaft ist ja im Prinzip auch nicht da. Wir leben ja auch in der Großstadt und nicht auf dem Dorf, wo alle zusammen das Kind erziehen, sondern die Menschen sind allein. Und es gibt wenig moralische Unterstützung.

Das Hilfesystem wurde im März 2020 komplett heruntergefahren. Das hat sich mittlerweile alles wieder verändert. Trotzdem fühlen sich die Leute alleine gelassen, weil Sozialpartner fehlen. Die Kinder werden nicht jeden Tag in der Schule gesehen und an bestimmten Symptomen erkannt. Ich habe vor kurzem, da lag noch Schnee, auf der Straße einen Jungen getroffen mit einem total blauen Auge. Ich habe ihn dann gefragt, warum hast Du so ein schlimmes blaues Auge? Ich hatte einen Schlittenunfall, hat er mir gesagt, aber es war offensichtlich, dass dieser Junge keinen Schlittenunfall hatte, sondern dass da irgendwas passiert ist. Wenn man nah dran ist und wenn man beobachtet und die Menschen sieht, dann sieht man natürlich auch die Probleme, die dahinterstecken.

Sie haben schon gesagt, dass Sie beim ersten Lockdown sofort auf digital umgestellt haben. An den Schulen gib es ja mittlerweile auch wieder Wechselunterricht. Aber woran fehlt es noch? Was müsste jetzt noch passieren, um diesen Kindern und Jugendlichen zu helfen?

Das große Problem ist, dass man diese Kinder gar nicht beachtet hat, dass man überhaupt keine Rücksicht auf sie genommen hat. Ich habe schon vor vielen Monaten gesagt, schickt Lehramtsstudenten ins Schulsystem, um die Eltern und die Lehrer zu unterstützen, damit die nicht noch weiter abgehängt sind. Und das merken die Menschen natürlich auch, dass keiner für sie da ist.

Jetzt redet man darüber, dass die Kinder einfach die Klasse wiederholen soll. Aber das geht gar nicht, weil es kommen ja schon die nächsten nach und sie werden schon wieder bestraft, dass sie zur falschen Zeit in der falschen Familie geboren worden sind, anstatt sie extrem zu unterstützen.

Man hätte schon vor langer Zeit sagen können, die Schulen haben jeden Tag auf, aber die Klassenverbände sind halt nur mit fünf Kindern besetzt. Dann wäre jedes Kind zwar nur einmal in der Woche in der Schule, aber man hätte wenigstens die Sozialpartner, die Sozialkontakte, die Lehrer hätten mehr auf die Kinder eingehen können. Die Probleme, die wir jetzt haben, nach 13 Monaten Pandemie, die wären nicht so groß, wie sie jetzt sind.

Herr Siggelkow, wir danken Ihnen für das Gespräch.

Das Interview führten Kerstin Hermes und Julia Menger / Radioeins. Zum Anhören klicken Sie auf den Abspielknopf auf dem Titelbild dieses Beitrags.

Sendung: Radioeins, 30.04.2021, 7:25 Uhr

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