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Schleppender Impffortschritt

Welche Rolle die Herdenimmunität bei der Bekämpfung der Pandemie spielt

Dass die Bevölkerung eine weitgehende Immunität gegen das Coronavirus erreicht, wird zunehmend als unrealistisch angesehen. Trotzdem haben Expert:innen Hoffnung und raten dazu, um jede weitere Impfung zu kämpfen. Von Haluka Maier-Borst

Ohne Maske, ohne Abstand, ohne Sorgen – darauf hoffen alle seit etwa anderthalb Jahren Pandemie. Dazu muss die Bevölkerung weitestgehend immun werden gegen das Coronavirus in seinen verschiedenen Varianten. Zum einen, weil dann weniger Menschen schwer erkranken. Und zum anderen, weil immune Menschen das Virus wohl nicht in gleichem Maße weiterverbreiten wie diejenigen, die gar keine Immunität haben.

So weit so klar. Doch rund um den Weg hin zu diesem Ziel, das oft als "Herdenimmunität" bezeichnet wird, gibt es einige Fragen. rbb|24 versucht, die wichtigsten Antworten zu beantworten.

Was genau ist die Herdenimmunität und welchen Einfluss haben die neuen Varianten des Virus darauf?

Mit Herdenimmunität wird der Zustand bezeichnet, bei dem ein so großer Teil der Bevölkerung durch Impfung oder durch vorheriges Durchleben einer Erkrankung immun ist, dass auch der nicht-immune Teil der Bevölkerung relativ gut geschützt ist. Sprich es kommt zwar durchaus zu einzelnen Erkrankungen, aber eben nicht zu ganzen Infektionsketten und Ausbrüchen. Wie hoch der Anteil an immunen Menschen in der Bevölkerung sein muss, damit die Herdenimmunität besteht, hängt auch davon ab, wie ansteckend eine Krankheit ist.

Dazu nimmt man zunächst die sogenannte Basisreproduktionszahl R0, die beschreibt, wie viele Menschen sich ohne Maßnahmen im Schnitt durch einen Infizierten anstecken. Dann zieht man eins davon ab und teilt das Ergebnis wieder durch R0. Dies ergibt dann, sehr grob, die Schwelle der Herdenimmunität.

Bei der ursprünglichen Variante des Coronavirus, dem sogenannten Wildtyp, ging man davon aus, dass dieser Wert ungefähr 75 Prozent beträgt, weil ein Infizierter im Schnitt drei bis vier Menschen angesteckt hat. Diese Zahl schien auch lange davon gedeckt, dass im brasilianischen Manaus ungefähr ab diesem Wert an Infizierten die Zahl der Neuinfektionen langsam abnahm [sciencemag.com]. Dann jedoch begannen die Infektionszahlen in Manaus wieder zu steigen.

Die Gründe dafür waren wohl, neben methodischen Schwierigkeiten der Studie, dass neue Varianten auftauchten, die einerseits den Immunschutz durch die vorherige Infektion mit dem Wildtyp teilweise aushebeln konnten. Zum anderen sind die neuen Varianten ansteckender. Ganz besonders groß ist der Zuwachs der Übertragbarkeit, die wohl mehr als doppelt so ansteckend ist wie die Ursprungsvariante. Das hat zur Folge, dass man für die Delta-Variante inzwischen davon ausgeht, dass eher rund 90 Prozent der Bevölkerung immun sein muss, bis die Herdenimmunität einsetzt.

Ist das Ziel der Herdenimmunität bei den aktuell überschaubaren Impfquoten überhaupt realistisch?

Tatsächlich ist die aktuelle Durchimpfungsquote unterhalb der 75 Prozent, die beim Wildtyp des Coronavirus angebracht gewesen wären und nochmal deutlich weniger als das, was man bräuchte, um die Delta-Variante in Schach zu halten. "Wenn Sie Herdenimmunität definieren als den Zustand, wenn wir das Infektionsgeschehen quasi komplett unterbinden, das werden wir nicht erreichen", sagt Leif Erik Sander, Immunologe an der Berliner Charité.

Man könne aber immerhin einen Zustand erreichen, in dem kaum noch schwere Verläufe und Todesfälle auftauchen würden, sagt Sander. Tatsächlich sieht es auch so aus, als wäre man auf einem guten Weg dorthin. Die Biostatistikerin Ursula Berger von der Ludwig-Maximilians-Universität München sagt: "Wenn man sich die Entwicklungen der Todeszahlen und der Einweisungen auf die Intensivstationen anschaut und mit den Melde-Inzidenzen vergleicht, da hat sich etwas entkoppelt. Obwohl die Inzidenzen schon seit einer Weile steigen, gehen die Todeszahlen eben weiter runter und auch die Zahl der Fälle auf Intensivstationen stagniert. Das ist ganz anders als in der zweiten Welle rund um Weihnachten."

Carsten Watzl, Immunologe am Leibniz-Institut für Arbeitsforschung an der TU Dortmund, betont zudem, dass selbst eine Quote näher an der Herdenimmunität erheblich helfe. "Je höher der Anteil der Immunen, desto milder wird die nächste Welle verlaufen und desto entspannter bleibt die Situation auf den Intensivstationen", sagt er. Das unterstreichen auch Modellierungen des Robert-Koch-Instituts [rki.de], die zeigen, dass das Steigern der Impfquote von 65 auf 75 Prozent bei den Erwachsenen wohl die Zahl der Intensivpatienten am höchsten Punkt halbieren würde.

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Was bedeutet das für diejenigen, bei denen eine Immunisierung durch die Impfung nicht erfolgreich war?

Viele Menschen haben ein geschwächtes Immunsystem – sei es, weil sie eine Autoimmunerkrankung haben, auf Dialyse angewiesen sind und/oder eine Organtransplantation hinter sich haben. Bei diesen Menschen ist mitunter auch nach der zweiten Impfung die Immunantwort gegen das Coronavirus nicht stark genug.

"Das ist für diese Menschen aktuell eine hochbrisante Situation", sagt Sander. Denn im Gegensatz zu anderen, die dank Impfung selbst bei einer Infektion mit einem leichten Verlauf meist rechnen könnten, seien diese Leute eben nicht durch die Impfung geschützt und müssten zudem mit einem schwereren Verlauf aufgrund ihrer Vorerkrankungen rechnen.

Dagegen gibt es im Grunde nur zwei Mittel. Zum einen sollte auch wegen diesen Menschen und wegen der Chancen auf mögliche weitere Mutationen die Inzidenz weiter möglichst niedrig gehalten werden. Zum anderen sollten diese Leute auch eine weitere, also eine Drittimpfung bekommen. "Das kennt man auch von anderen Impfungen und weiß, dass das hilft", sagt Sander. Dass dies auch bei den Covid-19-Impfstoffen der Fall sein könnte, darauf deuten erste Studien hin [acpjournals.org].

Und was ist mit den älteren Geimpften, sollten die nochmal geimpft werden? Oder sogar alle?

Mehrere Studien, darunter auch zwei von Charité-Forscher Sander [cdc.gov], zeigen: Der Immunschutz bei Älteren setzt erst mit der zweiten Impfung wirklich ein und fällt wohl auch dann schwächer aus. Sprich bei diesen Menschen kann es auch eher zu Durchbruchsinfektionen kommen. Trotzdem gibt es gute Nachrichten: Die Infektionen, die trotz Impfung passieren, würden "klinisch meist harmlos verlaufen", so Sander. Außerdem gehe er davon aus, dass selbst bei den Betagteren der Immunschutz zwei Wochen nach der Zweitimpfung definitiv aufgebaut sein sollte, also die Frist, die aktuell auch für den Impfnachweis entscheidend ist. Bleibt nur eine Frage: Wie lange hält der Immunschutz an?

Geht man davon aus, dass bei Menschen über 80 Jahre von vornherein der Immunschutz weniger stark ausgeprägt ist, könnte eine Drittimpfung tatsächlich dafür sorgen, dass das Immunsystem nochmal angeregt wird. Für sie könnte also so eine weitere Impfung wirklich Sinn machen. Gleichzeitig gibt Sander aber zu Bedenken, dass nach wie vor eine Impfung für Menschen, die gar keine Form von Schutz haben, immer noch wichtiger sei als eine Drittimpfung bei den Älteren. Das gelte zum einen für die jüngeren Menschen hierzulande, denn auch 35-Jährige könnten schwer erkranken, wenn auch seltener. Das sehe er selbst auf seiner Station in der Charité.

Zum anderen fehle es in anderen Teilen der Welt nach wie vor an Impfstoff. "Das ist doppelt hart, denn das sind Länder, wo die medizinische Versorgung schlechter ist und wir reden eben von vulnerablen Personen, die bei uns längst geimpft wären. Also zum Beispiel weite Teile von Afrika, Südamerika oder auch Südostasien", sagt Sander. Auch vor diesem Hintergrund rief die Weltgesundheitsorganisation WHO dazu auf, Drittimpfungen zurück zu stellen und erst einmal Unversorgte zu impfen [reuters.com].

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Wie wichtig ist beim Streben Richtung Herdenimmunität die Rolle der Kinder?

Geht es nur um die Infektionsdynamik allein, so ist klar, dass auch Kinder über zwölf Jahren eine Rolle spielen. Sind mehr von ihnen geimpft, wird auch dadurch die Pandemie gebremst, wenngleich der Effekt wohl geringer ist als bei Erwachsenen. "Das sollte aber nicht das entscheidende Argument sein bei der Impfung des einzelnen Kindes", sagt Sander. Und entsprechend sei die Abwägung von Kosten und Nutzen der Impfung bei Kindern nicht trivial.

Während bei Erwachsenen recht eindeutig ist, dass die Impfung den einzelnen gegen das Risiko einer schweren Krankheit schützt, ist das bei Kindern schwieriger zu sagen. Die Biostatistikerin Berger beschreibt die Situation wie folgt: "Gibt es ein Risiko für schwere Verläufe bei Kindern, die die Impfungen verhindern können? Das sehen wir bei Kindern erstmal nicht so gegeben, schwere Verläufe sind selten. Sind die Impfungen sicher? Das sieht so aus, aber tatsächlich wären noch mehr Daten notwendig, damit die Stiko eine allgemeine Impfempfehlung geben kann."

Ähnlich sieht es auch Sander, bei der Impfung der Kinder sei das Bild nicht so klar Schwarz-Weiß wie bei Erwachsenen. Trotzdem gebe er zu Bedenken, dass die viel diskutierte Herzmuskelentzündung, die offenbar in seltenen Fällen nach Impfungen auftauche, auch eben bei einer Covid-19-Infektion auftrete und das viel häufiger. "Unterm Strich würde ich darum lieber dieses gut abzuschätzende, sehr kleine und auch gut zu beobachtende Risiko der Impfung eingehen als alle möglichen Folgen von Covid-19 bei Kindern."

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Wie schauen die Experten auf den kommenden Winter?

Es gibt Hoffnung. So verweist Berger darauf, dass trotz der Delta-Variante weiterhin die Krankenhauseinweisungen niedrig seien [uni-muenchen.de]: "Uns fehlen natürlich noch definitive Daten, aber die Impfung scheint weiterhin gut zu wirken." Sie plädiere deshalb dafür, auf eine Kombination verschiedener Zahlen zu schauen: die Inzidenzen nach Altergsruppen, die Zahl der Fälle auf den Intensivstationen und die Zahl der Toten. Hätte man diese Kennzahlen im Blick, so könne man im Blick behalten, ob sich weiterhin die Infektionen von den schweren Folgen entkoppeln. Sollte sich die Lage jedoch verschärfen, halte es Berger für sinnvoll, präziser zu agieren als bislang. "Wir müssen uns jetzt schon überlegen, wie wir reagieren, wenn größere Ausbrüche passieren. Ganz konkret ist es aus meiner Sicht nicht hilfreich, Kitas zu schließen, wenn in Seniorenheimen, in Arbeitsstätten die Ausbrüche passieren. Wir müssen weg von diesen Gieskannenprinzipmaßnahmen", sagt sie.

Ähnlich sieht es auch Charité-Forscher Sander und rät dazu, sich auch anzuschauen, wie schnell sich die einzelnen Indikatoren ändern. Sollten zum Beispiel durch neue Varianten die Infektionen extrem rapide steigen, müsse man zeitnah handeln. Man dürfe nicht warten, bis erst einmal die Krankenhäuser ausgelastet sind, weil das sonst zu spät sei.

Ganz normal wird der Winter also laut Expertinnen und Experten nicht werden. Masken in beengten Situationen und dergleichen brauche es vorerst weiter. Trotzdem werde es wohl deutlich besser als im letzten Winter. Und der Dortmunder Immunologe Berger hofft darauf, dass ab dem nächsten Winter die Grundimmunität in der Bevölkerung so weit sei, dass man keine große Anspannung auf den Intensivstationen merke: "Und dann wird auch der vollkommen unsägliche Vergleich zur Grippe allmählich einigermaßen akzeptabel werden."

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Beitrag von Haluka Maier-Borst

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