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Quelle: dpa/Felix Kästle

Interview | Bildungsforscher Kai Maaz zu Lernrückständen

"Ich würde nie von einer verlorenen Generation sprechen"

Vier der vergangenen elf Monate waren die Schulen in Berlin und Brandenburg geschlossen. Welche Folgen hat das für die Schülerinnen und Schüler? Welche Defizite haben sich entwickelt? Bildungsforscher Kai Maaz hat sich damit sich intensiv beschäftigt.

rbb: Herr Maaz, wie groß sind die Lerndefizite?

Kai Maaz: Das können wir noch nicht genau sagen, weil wir keine verlässlichen Daten haben, weder für die gesamte Republik noch für Berlin und Brandenburg. Was wir aber aus internationalen Studien wissen ist, dass allein die acht Wochen Schulschließung im letzten Jahr zur Verlangsamung der Lernraten geführt haben, dass sich Lernrückstände entwickelt haben und dass diese unterschiedlich ausfallen.

Bei leistungsschwachen Schülerinnen und Schülern und auch bei solchen aus sozial benachteiligten Familien sind diese Rückstände größer. Wenn die Ergebnisse der internationalen Studien auch auf Deutschland zutreffen – und ich wüsste nicht, warum das nicht so sein sollte – dann wird sich die Leistungsheterogenität in den Schulklassen und in den Lerngruppen nach der Pandemie vergrößern.

Zur Person

Kai Maaz ist ein deutscher Bildungsforscher. Seit 2013 ist er Professor für Soziologie mit dem Schwerpunkt Bildungssysteme und Gesellschaft an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main und am Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation.

Lassen sich die Rückstände aufholen?

Ich denke schon. Aber wir müssen dafür sicherlich auch Geduld mitbringen. Da hilft es meines Erachtens auch nicht, Schuljahre zu wiederholen oder zu verlängern – eine Forderung, die man gegenwärtig häufiger hört. Denn aufgrund der großen Heterogenität wird es durchaus viele Schülerinnen und Schüler geben, die so gut wie keine Beeinträchtigung haben. Manche von ihnen haben möglicherweise sogar von der individuellen 1-zu-1-Betreuungssituation zu Hause profitiert und sich positiver entwickelt als unter normalen Bedingungen. Ich würde auch nie von einer verlorenen Generation sprechen.

Wie ist das bei Erstklässlern? Wenn bei den Grundlagen bereits Defizite auftreten, kann das nachgeholt werden?

Die Frage kann man, glaube ich, ebenfalls nicht pauschal beantworten. Auch hier wird sich eine große Heterogenität zeigen. Im Übrigen wird aber auch gar nicht erwartet, dass Erstklässlerinnen und Erstklässler nach dem Ende der ersten Klasse perfekt lesen können. Das ist etwas, was sich im Verlauf der ersten drei Schuljahre entwickelt. Es braucht nun vielleicht ein bisschen mehr Geduld und Flexibilität, um bestimmte Lernziele zu erreichen. Eventuelle Lernrückstände lassen sich aber auf jeden Fall noch aufholen.

Zur Person

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Eine zentrale Forderung der von Ihnen geleiteten Expertenkommission ist, dass möglichst schnell die Lernstände der Schülerinnen und Schüler erfasst werden. Wie soll das praktisch laufen?

Es gibt ja auch in Berlin und Brandenburg in den verschiedenen Jahrgangsstufen die Verfahren der Lernstandserhebung. Die sind in meinen Augen auch jetzt das richtige Instrument. Dabei geht es gar nicht darum, das standardisiert über alle Schulen des Landes durchzuführen. Stattdessen sollen die einzelnen Schulen möglichst schnell Kenntnis über den individuellen Leistungsstand ihrer Schülerinnen und Schüler erhalten.

Die wirkliche Herausforderung ist aber – und da brauchen wir möglicherweise auch hier in der Region ein Umdenken –, dass die Ergebnisse stärker dafür genutzt werden müssen, den Unterricht zu verbessern. Wir müssen also überlegen: Wie kann ich Schülerinnen und Schüler mit bestimmten Lernrückständen besser fördern? Welche Angebote habe ich? Was halten die Landesinstitute an didaktischen Materialien und an Fördermöglichkeiten bereit?

Insgesamt müssen wir Diagnose und Förderung viel mehr als Einheit denken und miteinander verbinden. Das wird sich sicherlich kurzfristig nicht perfekt umsetzen lassen. In manchen Bundesländern gibt es hierzu aber schon einen größeren Erfahrungsschatz, wovon auch die anderen profitieren können. Dort wird das Ganze als Chance wahrgenommen und nicht als ein Kontroll- und Evaluationsinstrument.

Müssen wir die Lehrpläne kürzen?

Ich glaube, wir können jetzt mitten im Schuljahr nicht die Frage klären, ob wir die Lehrpläne einkürzen müssen. Das wäre nicht zielführend. Um kompetenzorientierten Unterricht auch unter den jetzigen Rahmenbedingungen zu ermöglichen, könnten wir aber schon darüber nachdenken, die Quantität von Inhalten etwas zu reduzieren, ohne die Qualität und die Breite zu beschneiden.

Das heißt konkret?

Man muss sich beispielsweise fragen, wie viele Bücher gelesen oder wie viele mathematische Lehrsätze behandelt werden müssen. Ich denke, dass man hier auch mit etwas weniger auskommen und trotzdem in die notwendige Tiefe gehen kann. Denn darauf kommt es vor allem an. Es geht darum, die Qualität des Unterrichts zu sichern, und nicht darum, möglichst viele unterschiedliche Inhalte abzuarbeiten.

Meinung

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Lernrückstände sind längst nicht mehr unser Problem

Haben Sie das Gefühl, dass man Ihnen in der Politik auch zuhört?

Ich denke schon, dass die Politik sehr gut zuhört. Es ist wichtig, dass jetzt an abgestimmten Gesamtstrategien gearbeitet wird. Wir sollten uns nicht nur mit der Frage befassen, wann die Schulen aufmachen, sondern auch damit, wie ein pädagogisch sinnvoll gestalteter Wechselunterricht aussieht. Es wäre auch umsichtig, die außerschulischen Bildungsträger miteinzubeziehen. Natürlich braucht es dafür Ressourcen, die man zeitnah einplanen könnte. All das sind Aspekte einer Gesamtstrategie, die langfristiger angelegt ist.

Und diese Perspektive fehlt in Berlin und Brandenburg?

Diese Gesamtperspektive fehlt meines Erachtens in ganz Deutschland noch. Wir stehen vor wirklich großen Herausforderungen, die alle gemeinsam berücksichtigt werden müssen: Abbau von Bildungsungleichheiten, Umgang mit Heterogenität in den Lernkontexten, Ausbau des qualitativen Ganztags, nachhaltige Digitalisierung unserer Bildungseinrichtungen, Sicherung des Lehrkräftebedarfs. Diese Herausforderungen wird man nicht in ein oder zwei Jahren lösen können, die brauchen einen längeren Atem. Ich finde es ein gutes Signal aus der Politik, eine solche weitreichende Strategie jetzt in den Blick zu nehmen.

Die Finanzminister werden mit den Ohren schlackern, das kostet nämlich alles wahnsinnig viel Geld.

Das kostet alles sehr viel Geld, das ist richtig. Aber es wird noch mehr Geld kosten, wenn wir die genannten Defizite nicht angehen. Insofern kann man durchaus an eine alte und vielleicht etwas plakative Formel erinnern: "Frühes Fördern ist günstiger als spätes Reparieren". Die heutigen Investitionen werden langfristig zu sehr positiven Effekten führen.

Vielen Dank für das Gespräch!

Das Interview führten Stefanie Brockhausen, Antenne Brandenburg, und Dagmar Bednarek, Abendschau.

 

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