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Audio: rbb24 Inforadio | 23.08.2022 | Oda Tischewski | Quelle: dpa/Wolfram Steinberg

Interview | Gewerkschafts-Vorsitzender

"Die Berliner Feuerwehr ist selbst ein richtig kranker Patient"

"Es könnte Tote geben!" - Die Feuerwehr-Gewerkschaft schlägt in Berlin Alarm. Nach einem überfordernden Wochenende folgt die verzweifelte Pressemitteilung. Was steckt dahinter? Fragen an Lars Wieg, den Vorsitzenden der DFeuG Berlin Brandenburg.

Die Berliner Feuerwehr ist im Ausnahmezustand - allerdings fast dauerhaft. Nach einem Wochenende, an dem nur gut 80 Rettungswagen vier Millionen Menschen gegenüber standen, verfasst die Gewerkschaft am vergangenen Montag eine Pressemitteilung.

"Es ist unter diesen Umständen nicht abwegig zu glauben, dass wir irgendwann Tote zu beklagen haben werden", erklärte Lars Wieg, Vorsitzender der DFeuG Berlin Brandenburg und Verfasser der Mitteilung. Im Interview mit ihm wird klar, dass das Problem und damit auch die Lösung im gesamten Gesundheitssystem zu suchen ist.

rbb: "Es könnte Tote geben" - Was hat Sie zu dieser drastischen Wortwahl bewogen?

Lars Wieg: Am Samstag war es mehrmals in der Nacht so, dass wir für sieben Minuten kein einziges Rettungsdienstfahrzeug zur Verfügung hatten. Stellen Sie sich das am Beispiel einer Wiederbelebung vor. Nach acht Minuten, sagt die Statistik, müssen wir das eigentlich gar nicht mehr versuchen. Die Hirnzellen sind dann in der Regel so weit abgestorben, dass es also, ja... kaum noch Sinn macht, zu reanimieren. Und in so einem möglichen Szenario haben wir sieben Minuten lang gar kein Auto zur Verfügung.

Deswegen verstehe ich gar nicht, dass die Bevölkerung nicht auch von sich mal sagt: Also wir als Steuerzahler wollen mit unserem Geld jetzt die Geldmittel zur Verfügung stellen, damit die Stadt in den heiklen Situationen funktioniert. Bitte gebt der Berliner Feuerwehr weitere Stellen!

Inwiefern war die Versorgungslage am vorangegangenen Wochenende anders?

Wir haben im Regelfall an einem Wochentag 140 Rettungswagen im Einsatz. Am vergangenen Wochenende waren es lediglich 80. Die Feuerwache Steglitz musste dann sogar mit einem Löschfahrzeug verletzte Patienten ins Krankenhaus fahren, weil kein Rettungswagen mehr verfügbar war - aus unserer Sicht ist das eine Katastrophe!

Wie groß ist das materielle und personelle Defizit aus Ihrer Sicht?

Wir haben 140 Rettungswagen. Schätzungen gehen davon aus, dass wir eigentlich 160 Rettungswagen bräuchten. Seit Jahren schon fordern wir, dass mindestens 20 Rettungswagen mehr in den Dienst genommen werden. Aber die sind bis heute noch nicht gekommen. Die Bedarfsanmeldung dafür hat die Innenverwaltung über zwei Jahre quasi nicht berücksichtigt.

Nach ersten Ergebnissen einer Untersuchung vom Rechnungshof Berlin fehlen uns außerdem 600 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, um die Situation dauerhaft bewältigen zu können. Diese Zahlen sind aber noch nicht verifiziert, weil der Rechnungshofbericht noch nicht offiziell veröffentlicht ist.

Ein großes Problem in unserer täglichen Arbeit ist auch ein hoher Krankenstand. Der liegt mittlerweile bei knapp 15 Prozent mit steigender Tendenz, weil die Belastung eben so hoch ist und die Mitarbeiter dann sagen, sie können nicht mehr. Das liegt nicht an Corona. Das ist die Belastung an sich. Ein Rettungswagen zum Beispiel hatte gerade 32 Einsätze innerhalb von 24 Stunden. Die Kollegen selbst sind während einer Schicht zwölf Stunden im Einsatz. Die Berliner Feuerwehr ist also selbst ein richtig kranker Patient. Wenn wir ein Wirtschaftsunternehmen wären, dann hätten wir aus meiner Sicht schon Insolvenz anmelden müssen.

Was wurde aus ...? | Berliner Feuerwehrmann

"Hier ist irgendwas mit mir passiert. Irgendwas ist kaputtgegangen"

2018 demonstrierten Feuerwehrleute vor dem Roten Rathaus, um mit der Aktion "Berlin brennt" auf ihre immer belastenderen Arbeitsbedingungen aufmerksam zu machen. Gut vier Jahre später die Frage an einen damaligen Teilnehmer: Was hat sich geändert?

Haben Sie den Eindruck, dass die Menschen sie häufiger wegen Kleinigkeiten zu Einsätzen rufen?

Ja, die Anruferzahl ist im letzten halben Jahr noch einmal deutlich gestiegen. Wir hatten sonst im Schnitt pro Tag 3.500 Anrufe. Inzwischen zählen wir jeden Tag zwischen 4.000 und 4.200 Anrufe. Bei den Einsätzen selbst stellen wir tatsächlich fest, dass wir immer wieder zu Bagatellen gerufen werfen.

Eine Kollegin und ein Kollege sind zum Beispiel gerade erst in ein Altenheim gefahren und haben dort einer pflegebedürftigen Person die Füße eingecremt, weil die Pflegekraft nicht in der Lage war oder sich nicht in der Lage sah, das Medikament auf die Beine aufzubringen. Das würde nicht in ihrem Tätigkeitsprofil stehen. Wir hatten auch den Fall, bei dem der Vater eines Kindes uns gesagt hat: Das Geld für ein Taxi war mir zu teuer. Dafür gibt es doch den Rettungsdienst.

Vor etwas mehr als einem Monat hat sich Innensenatorin Iris Spranger (SPD) dafür ausgesprochen, dass unbedingt etwas gemacht werden muss. Wurde aus Ihrer Sicht "was gemacht"?

Die Senatorin hat aus unserer Sicht wirklich "gehandelt": Sie hat eine Taskforce beziehungsweise eine Steuerungsgruppe eingesetzt. Da sind Mitarbeiter für ein Vierteljahr rund acht Stunden am Tag freigestellt worden. Diese Steuerungsgruppe arbeitet quasi die Punkte ab, die dort vorhanden waren, und versucht ein Lösungskonzept zu arbeiten. Dass das nicht innerhalb von 14 Tagen oder vier Wochen zu ersten greifbaren Ergebnissen führt, ist glaube ich allen klar. Aber zumindest ist es so, dass die Steuerungsgruppe jede Maßnahme, die wir in der Feuerwehr treffen, noch einmal auf Wirksamkeit überprüft und auch Vorschläge ausspricht.

Trotzdem haben Sie wieder Alarm geschlagen. Was hätte sich aus ihrer Sicht also auch schon kurzfristig tun können und müssen?

Aus unserer Sicht hätte man zuallererst an den Stichworten, zu denen wir überhaupt alarmiert werden, etwas ändern müssen. Zum Beispiel das Stichwort "Bauchschmerzen". Daraufhin fährt fast in der gesamten Bundesrepublik Deutschland immer nur ein Bereitschaftsarzt oder ein Krankentransport hin. Bei uns fährt ein Rettungswagen hin. Das macht im Schnitt pro Jahr 16.000 Einsätze aus. Die fahren wir an, obwohl sie eigentlich gar nicht nötig sind.

Wer würde diese Fälle oder Stichworte denn stattdessen übernehmen?

Bei einem Abstimmungsgespräche mit der Kassenärztlichen Vereinigung ist rausgekommen, dass sie die Hälfte der Einsätze übernehmen können. Das heißt, wir hätten da zumindest eine Entlastung von 7.000 bis 7.500 Einsätzen.

Was würden Sie noch direkt verändern?

Wir haben den Wunsch, dass sie Leitstellen-Disponenten die Möglichkeit haben, auch mal einen Einsatz abzulehnen und zu sagen: "Wir schicken Ihnen jetzt kein Auto. Bitte gehen Sie zu Ihrem Hausarzt oder begeben Sie sich in die Apotheke und holen sich da ein entsprechendes Medikament." Das ist leider zurzeit nicht möglich. Wir dürfen gar nicht "ablehnen". Es gibt für uns nur die Möglichkeiten, einen Rettungswagen zu schicken oder bei nicht lebensbedrohlichen Fällen an die Kassenärztliche Vereinigung abzugeben.

Vielen Dank für das Gespräch!

Das Interview führte Oda Tischewski rbb24 Inforadio. Für die Online-Fassung ist es gekürzt und redigiert worden.

Sendung: rbb24 Inforadio, 23.08.2022, 17:10 Uhr.

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