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Audio: rbb|24 | 06.09.2022 | Ausschnitt aus dem Interview mit Jakob Maske | Quelle: imago stock&people/Thomas Koehler

Interview | Übergewicht und Adipositas

"Kinder haben sehr damit zu kämpfen, die Kilos runterzubekommen"

Spätestens seit Corona sind übergewichtige Kinder und Jugendliche immer wieder Thema. Der Kinder- und Jugendarzt Jakob Maske sagt im Interview, wie man am Besten gegen das Übergewicht von Kindern vorgeht - und wie immens schwierig das ist.

rbb|24: Herr Maske, gibt es eine Faustregel, ab wann ein Kind übergewichtig ist? Oder kann man das schlicht sehen: wenn man es denkt, ist es auch so…?

Jakob Maske: Nein, wir benutzen immer den Body-Mass-Index (BMI), um zu sehen, ob das Kind übergewichtig ist. Und der Body-Mass-Index ist sowohl altersabhängig als auch geschlechtsabhängig. Also haben Jungs anderes Toleranzwerte als Mädchen. Beziehungsweise männliche Jugendliche haben andere als weibliche Jugendliche. Auch die Altersgrenzen sind ganz unterschiedlich.

Zur Person

Jakob Maske

Was ist der Unterschied zwischen einem übergewichtigen und einem adipösen Kind?

Das ist letztendlich nur ein Fachbegriff. Adipositas heißt krankhaftes Übergewicht.

Und ab wann ist das Übergewicht krankhaft?

Das hängt dann wieder vom Body-Mass-Index ab. Wir sprechen eigentlich davon, dass es krankhaft ist über der 97. Perzentile. Wenn Kinder also einen Body-Mass-Index haben, den nur noch drei Prozent der anderen Kinder in ihrem Alter überschreiten, dann nennen wir das krankhaftes Übergewicht, also Adipositas. Es gibt auch Quellen, die von Übergewicht sprechen, wenn die 90. Perzentile erreicht ist. Wenn also zehn Prozent der anderen Kinder ein gleiches oder höheres Gewicht im Bezug auf die Körpergröße haben.

Die Perzentilen sind die Tabellen, die man beispielsweise auch in den U-Heften der Kinder findet?

Genau. Perzentilen sind letztendlich Kurven, die anzeigen, wo der normale Weg und die Standardabweichungen liegen. Sie zeigen uns an, wo wir eben in diesem Moment stehen – aber sie zeigen uns auch an, wie der Verlauf ist. Wenn ich jetzt zum Beispiel das Gewicht ganz allein betrachte, dann sehe ich anhand dieser Kurve auch die Geschwindigkeit der Gewichtszunahme. Und ich sehe auch, ob diese sich stark verändert hat. Zum Beispiel in den Jahren der Pandemie.

Was sollten Eltern in welcher Reihenfolge tun, wenn sie denken, ihr Kind sei zu dick?

Zunächst einmal ist es wirklich wichtig, die Größe und das Gewicht zu erfassen und das in Bezug zu stellen - und dann am Besten den Body-Mass-Index auszurechnen. Den wiederum sollte man am Besten zusammen mit dem Kinder- und Jugendarzt auf einer Kurve betrachten. Um zu sehen, wie die Tendenz in den vorigen Jahren der Entwicklung gewesen ist. Und auch um zu sehen, ob es überhaupt ein Problem gibt oder ob es nur etwas ist, was wir empfinden. Das ist ein ganz wichtiger Punkt. Es geht ja nicht um Schönheit, sondern um Gesundheit.

Das heißt, da sind die Eltern dem individuellen Kinderarzt, dessen Kenntnisstand und Problembewusstsein ausgeliefert. Warum gibt es da nicht viel klarere Handlungsanweisungen, was ab einem bestimmten BMI zu tun ist?

Das ist so, weil der BMI alleine auch nicht allzu viel aussagt. Wenn ich beispielsweise mit vier Jahren einen BMI von 19 habe, ist das ein krankhaftes Übergewicht. Aber wenn ich diesen BMI mit 14 Jahren habe, bin ich schon fast wieder im Normalbereich. Insofern kann man keine pauschalen Aussagen treffen, sondern muss ganz individuell auf die BMI-Kurven gucken. Das kann auch jeder Mensch zu Hause selbst machen. Aber die Hilfe des Kinder- und Jugendarztes ist in der Regel sinnvoll und kann dazu führen, dass man in ein gutes Beratungsgespräch kommt.

Der nächste Schritt wäre also, Beratung zu suchen?

Genau. Beratung ist auch wichtig, weil es auch Krankheiten gibt, die Übergewicht auslösen können, und darüber muss man mit einem Arzt sprechen.

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Was sollten Eltern tun, wenn nur sie denken, das Kind ist zu dick – das Kind aber kein Problem sieht?

Es ist ein häufigeres Problem in unserer Praxis, dass die Kinder sich eher belästigt fühlen, wenn wir das Gewicht oder den Body-Mass-Index ansprechen. Weil das Problembewusstsein bei Kindern häufig noch nicht da ist und sie oft denken, man spricht über ihr Aussehen. Wir sprechen aber über Gesundheit. Weil wir wissen, dass Übergewicht im Körper Dinge tun kann, die im späteren Leben zu Krankheiten führen können. Sei es durch die manuelle Belastung oder sei es durch Effekte, die am Herzen, den Gefäßen oder im Gehirn passieren. Insofern muss man den Kindern erst einmal klar machen, dass es nicht darum geht, dass sie nicht gut aussehen. Sondern, dass wir uns um ihre Gesundheit sorgen machen. Das ist etwas, wofür Kinder noch gar nicht bereit sind. Auch Jugendliche machen sich über ihre Gesundheit oder wie es ihnen in 20 Jahren, geht erst mal noch gar keine Sorgen. Ihnen ist wichtig, wie es ihnen im Moment geht, und die Kinder fühlen sich ja nicht krank, sondern in der Regel wohl.

Kinder welcher Altersgruppe sind besonders gefährdet? Während der Lockdowns sollen vor allem Zehn- bis Zwölfjährige betroffen gewesen sein.

In den Lockdown-Zeiten haben wir das in jeder Altersgruppe bemerkt. Natürlich sind die Zehn- bis Zwölfjährigen unter Umständen besonders stark betroffen. Aber auch die Kindergartenkinder waren sehr stark betroffen, weil sie gar keine Möglichkeit mehr hatten, sich zu bewegen. Viele sozial schwache Kinder hatten nicht einmal mehr die Möglichkeit, ein gesundes Essen am Tag wahrzunehmen. Insofern waren auch alle anderen Altersgruppen stark betroffen. Wir haben Gewichtszunahmen in einer Größe und in einer Menge gesehen, die wir so vorher noch nie gesehen haben.

Gibt und gab es dabei Geschlechtsunterschiede?

In der Regel waren beide Geschlechter ungefähr gleich betroffen.

Ist Ihr Eindruck, dass diese Kinder ihre Corona-Pfunde jetzt langsam wieder loswerden?

Tja. Das wissen ja die meisten, die immer mal ein bisschen auf das Gewicht achten müssen, dass das etwas ist, was nicht so leicht geht. Das Gewicht geht leider nicht so leicht runter, wie es raufgegangen ist. Die Kinder haben tatsächlich sehr damit zu kämpfen, die Kilos runterzubekommen. Und auch die Eltern. Vielmehr würde es im Wachstum ja schon reichen, das Gewicht zu halten. Das ist oft ein Ziel, das wir angeben. Aber selbst das ist für Kinder manchmal sehr schwer.

Wie macht man das: das Gewicht halten?

Zunächst muss man noch einmal ganz deutlich sagen, dass es auch Krankheiten gibt. Das muss man vorher natürlich abklären. Eine Schilddrüsen-Unterfunktion oder eine Fettstoff-Wechselstörung kann beispielsweise zu einer krankhaften Gewichtszunahme führen. Das muss man ausschließen. Dann gibt es drei Grundmaßnahmen: Man muss am Essen arbeiten, man muss am Trinken arbeiten und man muss an der Bewegung arbeiten. Das sind die drei Grundbausteine, mit denen wir versuchen, mit den Kindern und Jugendlichen und ihren Eltern zu arbeiten.

Haben Sie Vorschläge, wie Eltern Ihre Kinder ansprechen sollten, um das Körperbild der Kinder nicht negativ zu beeinflussen?

Am Besten ist eigentlich das gemeinsame Gespräch mit dem Kinder- und Jugendarzt. Weil wir da immer gleich sehr deutlich machen, dass es eben nicht ums Aussehen oder das Körperbild geht, sondern um die Gesundheit.

Die Werbung suggeriert ja schon eine Weile, dass auch nicht rundliche Körper schön und richtig sind. Das verhilft ja auch dicken Kindern zu einem bestimmt besseren Körperbild. Aber ist das auch dem Problembewusstsein dienlich?

Wir sind natürlich sehr dafür, dass dieses Bild der superschlanken Modells so langsam verschwindet. Das soll natürlich auch nicht ins Gegenteil umschlagen – aber das Gefühl hatte ich bisher nicht. Jeder muss sein Körpergefühlt entwickeln. Und es gibt sehr große Bereiche im Body-Mass-Index, die auch ein etwas fülligeres Aussehen nicht als krankhaft darstellen.

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Nochmal zurück zu den schon übergewichtigen Kindern und deren Eltern: Ist es denn nicht der Job und die Verantwortung letzterer, dafür zu sorgen, dass ihre Kinder nicht übergewichtig oder gar adipös werden?

Das sagt sich sehr einfach. Es ist aber tatsächlich sehr schwierig. Gerade mit Jugendlichen, die selber Taschengeld haben und sich Dinge kaufen, mit denen man als Eltern gar nicht einverstanden ist. Und wenn ein Kind erst einmal übergewichtig geworden ist, ist es tatsächlich sehr schwierig, aus der Situation wieder herauszukommen. Insofern kann man den Eltern nicht einfach die Verantwortung übergeben und sagen: Ihr seid schuld. So ist das nicht. Wir müssen schauen, dass Kinder präventiv da erst gar nicht rein kommen. Das ist wichtig und da haben Eltern eine wichtige Vorbildfunktion – bei Essen, Trinken und Bewegung. Sie haben auch eine wichtige Vorbildfunktion, indem sie ihren Kindern möglichst nur gesunde Sachen kaufen und Süßigkeiten nur in sehr begrenztem Maße zulassen. Auch das können Eltern regulieren. Aber ganz alleine können die Eltern das auch nicht. Gerade aus einer Adipositas muss man gemeinsam Wege finden.

Sind wir denn dahingehend in Deutschland gut aufgestellt?

Es ist, wie anfangs schon gesagt, total schwierig, eine erfolgreiche Therapie durchzuführen. Es gibt verschiedene Möglichkeiten und Hilfeeinrichtungen, aber es kommt doch immer noch auf die Mitarbeit des Kindes und auf dessen Motivation an. Beide Faktoren – Angebot und Motivation – müssen gut zusammenspielen, damit man rasche Erfolge sieht. Gerade Kinder sind ja abhängig von raschen Erfolgen. Sie haben häufig nicht so den Blick für langfristige Erfolge. Ein halbes Kilo in der Woche abnehmen ist für sie kein sichtbarer und schneller Erfolg.

Vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Sabine Priess.

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