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Video: rbb24 | 07.02.2023 | Material: rbb24 Abendschau | Quelle: rbb/Schneider

Berliner spenden für Erdbebenopfer

Herz und Kaos

Die Erdbebenkatastrophe in der Türkei und Syrien ist die schlimmste, die die Region seit mehr als 80 Jahren heimgesucht hat. Auch in Berlin spenden Menschen haufenweise - die Sammelnden bringt das an ihre Grenzen. Von Sebastian Schneider

Noch bevor man die Hilfe sieht, kann man sie hören. Stimmengewirr, Rufe auf türkisch aber vor allem immer wieder ein Ratschen. So hört es sich an, wenn man Paketklebeband abreißt, Streifen um Streifen, 15 Rollen liegen auf einem kleinen Tischchen auf dem Gehweg. In wenigen Sekunden ist wieder ein Pappkarton fertig. Männer in Daunenjacken und Jeans türmen sie vor dem Geschäft zur Größe eines Hügels auf, nehmen sich gleich die nächste Pappe von einem Stapel. Der ist höher als sie selbst. Frauen zücken Filzstifte, schreiben "Sorap" auf die Kiste, Socken heißt das, oder "Erkek Kiyafek", Herrenbekleidung. Das alles soll den Opfern der Erdbeben in der Türkei helfen.

"Das Ganze ist regelrecht explodiert": Die Pflegedienstleisterin Safiye Ergün. | Quelle: rbb/Schneider

Das Geschäft ist ein Pflegedienst in Moabit und die Chefin heißt Safiye Ergün. Wie sie so in der Sonne dieses kalten Dienstags inmitten der Kartonstapel und schwirrenden Helfer dasteht, sieht sie müde aus. "Mit so einer Welle von Hilfsbereitschaft hätten wir nie und nimmer gerechnet. Das Ganze ist regelrecht explodiert", sagt Ergün. Ihre Schwester Serap rotiert ein paar Meter weiter in ihrem dicken schwarzen Mantel, dirigiert in ihren Fingerlingen Kistenpacker, Spendende und Mitarbeiterinnen. "Ich bin nur noch auf Autopilot. Ich habe überhaupt nicht geschlafen", sagt sie, sichtlich drüber, und muss schon wieder weiter. Die Schlange vor dem Pflegedienst an der Ecke zur Turmstraße ist jetzt um die 50 Meter lang. Da rollt der nächste Transporter heran. Man muss die Kisten und Säcke vom Kopfsteinpflaster räumen, damit er überhaupt durchkommt.

tagesschau.de

Spenden: Hilfe für die Menschen in der Türkei und in Syrien

"Dass es so schnell so viel wird, hat uns überfordert"

Die Katastrophe überraschte die Menschen im Schlaf. Um 4:17 Uhr Ortszeit am Montagmorgen bebte die Erde in der Nähe von Gaziantep im Südosten der Türkei, Hunderte Nachbeben folgten [tagesschau.de]. Sie ließen Hochhäuser einstürzen, als hätte ein Riese einfach dagegengeschnippt. Die Trümmer begruben Tausende unter sich. Die Zahl der Opfer steigt unablässig, am Dienstagnachmittag wusste man von mehr als 6.200 Toten und mehr als 26.500 Verletzten in den betroffenen Gebieten der Türkei und Syrien.

Da standen die Spenderinnen und Spender schon längst Schlange vor dem Pflegedienst von Safiye Ergün. "Am Montagmorgen haben wir spontan beschlossen, Spenden zu sammeln. Das hat sich dann über die sozialen Netzwerke verbreitet. Aber dass es so schnell so viel wird, hat uns überfordert", sagt Ergün. Gegen elf Uhr am Montag seien die ersten Spenderinnen und Spender vorbeigekommen. Die wenigen Räume des Pflegedienstes und Seniorencafés seien dann schnell voll gewesen. Notgedrungen verlagerten Ergün und ihr Team alles nach draußen. Die Polizei kam, half am Abend, die Straße abzusperren, damit die Lkw die Sachen abholen konnten. "Wir sind damit beschäftigt, Ordnung ins Chaos zu bringen", sagt Ergün. "Kaos", auch dieses türkische Wort hört man an diesem Nachmittag immer wieder aus all den Rufen vor dem Pakethügel heraus.

"Ich fühle, dass ich keine Wahl habe": Die türkische Studentin Sevval und ihr Freund. | Quelle: rbb/Schneider

Über Land oder per Frachtflugzeug

"Ich brauche einen Mann zum Tragen!", ruft eine Mitarbeiterin auf dem vollgestellten Gehweg. "Ich komm gleich!", quetscht ein junger Kerl zwischen seinen Lippen hervor, die Kippe balanciert er gerade noch im Mundwinkel, auf seinen Armen trägt er drei Pakete Windeln. Im ersten Stock gegenüber, gleich über der Litfaßsäule, öffnet sich ein Fenster. Eine ältere Frau mit hellblauem Kopftuch stützt sich mit ihren Armen aufs Fensterbrett. Sie sieht sich das Prozedere wie von einer Loge aus an. Mit einem leichten Schmunzeln im Gesicht.

Die Leute da unten schleppen Babystrampler und Decken an, Gummistiefel, T-Shirts, Unterhosen oder Schlafsäcke. Etwa 100 Menschen hasten auf dem kleinen Stück Emdener Straße umher, sie bilden Ketten und reichen sich die Pakete weiter, wickeln vollgestellte Paletten mit Plastikfolie ein. Es fällt schwer, nicht im Weg zu stehen. Schon hupt wieder einer: Der nächste Laster ist da.

Von hier werden die Spenden in Lagerhallen gebracht, aber viele von denen sind auch schon voll. Was passend sortiert wurde, kommt auf dem Landweg ans Ziel, mehr als 3.100 Kilometer weit. Oder zum BER und von dort mit Frachtflugzeugen weiter. Zwei ihrer Angestellten sind heute zuhause geblieben, erzählt die Pflegedienstchefin Ergün, es ist alles zu schwer. Sie haben Familie im Katastrophengebiet.

Interview | Deutsches Rotes Kreuz über Erdbeben-Hilfen

"Gut gemeinte, aber nicht abgestimmte Hilfslieferungen helfen leider nicht"

Die Zahl der Erdbebenopfer in der Türkei und Syrien steigt weiter. Internationale Hilfsteams machen sich auch aus Deutschland auf den Weg in die zerstörten Gebiete. Welche Hilfen sie brauchen, um helfen zu können, erklärt Rebecca Winkels vom DRK.

Eine junge Frau in Kamelhaarmantel und rotem Schal bückt sich über einen frischen, leeren Karton. Man kann die neue Pappe riechen. Sevval ist 19 Jahre alt und studiert an der TU Berlin Computer Science, das Gespräch führt die Gaststudentin auf Englisch. Eigentlich habe sie an diesem Tag in die Bibliothek gewollt, erzählt sie, aber dann hätten sie und ihr Freund erfahren, dass sie hier etwas tun könnten. "Ich fühle, dass ich keine Wahl habe, ich muss einfach helfen. Meine Eltern leben in der Türkei, sie sind nicht betroffen - aber sie hätten es genauso sein können wie die vielen anderen Opfer", sagt sie. Dass Türken helfen würden, habe sie erwartet. Aber sie sei dankbar für die Anteilnahme und Hilfsbereitschaft, die auch viele Deutsche angesichts der Katastrophe zeigten.

"Viel von dieser Arbeit wird umsonst gewesen sein": Dogan Azman, Sprecher der Türkisch-Deutschen Unternehmervereinigung in Berlin. | Quelle: rbb/Schneider

Keine gebrauchten Sachen

Auf der anderen Straßenseite steht ein kleinerer Mann und betrachtet die Szenerie, er trägt seine blaue Kappe gegen die Sonne tief ins Gesicht gezogen. Unter den linken Arm hat er einen gebundenen Jahreskalender und ein Iphone geklemmt. Dogan Azman ist der Sprecher der Türkisch-Deutschen Unternehmervereinigung in Berlin, er kritisiert die fehlende Organisation der Spenden.

"Es ist schade, aber viel von dieser Arbeit wird umsonst gewesen sein. Die Leute bringen gebrauchte Sachen, aber in der Türkei dürfen aus hygienischen Gründen nur neuwertige angenommen werden. Es wurde nicht gut genug kommuniziert", sagt Azman. Gebraucht würden nicht Textilien, sondern vor allem Zelte, Taschenlampen, Batterien, Winterschuhe, Heizöfen mit Ölbetrieb, Windeln, Babynahrung oder Akku-Ladegeräte.

Der Gastronom redet dann noch ausführlich und druckreif über die Notwendigkeit von Hilfslieferungen, über die Lkw, die die Unternehmervereinigung kostenlos samt Fahrern für den Transport der Güter in die Türkei bereitstellt. Er klingt dann ein bisschen wie ein Politiker, auch vor der Kamera eines Fernsehteams, das nebenan auf ihn wartet. Aber spricht man ihn später darauf an was in ihm vorgegangen ist, als er von der Tragödie erfuhr, sagt Azman erstmal nichts und dann: "Mir fehlen die Worte." Der Chefkoch seines Restaurants in Mitte habe Verwandte. die vom Erdbeben getroffen wurden. Man wisse noch nicht, wie schlimm es sei.

Azman stammt aus der türkischen Provinz Erzincan in Ostanatolien. Dort wütete 1939 das bisher schlimmste Erdbeben der türkischen Geschichte [wdr.de]. Azmans Großeltern überlebten es, auch sein Vater, der nur ein paar Monate alt war, erzählt er. Manche Angehörige nicht, insgesamt 33.000 Menschen starben. "Aber das waren andere Zeiten, kleinere Häuser. Diesmal werden wir einen traurigen neuen Rekord haben, wahrscheinlich über 50.000 Tote. Die Menschen sind jetzt obdachlos, bei dieser Kälte, sie können nicht mehr in die Häuser. Wir wissen nicht, wie es weitergehen soll", sagt Azman.

Die WHO schätzt, dass insgesamt bis zu 23 Millionen Menschen von der Katastrophe betroffen sind. Die Erschütterungen, sagen Geologen, waren noch auf Grönland messbar [zdf.de]. "6.2.23, 4:17 Uhr - das wird in die Geschichte eingehen. Ich werde dieses Datum den Rest meines Lebens nicht mehr vergessen", sagt Azman und geht davon. Um 13:42 Uhr rufen sie auf der Straße die letzte Packrunde aus. Mehr könnten sie einfach nicht mehr annehmen, sagt Safiye Ergün und raucht eine. Aber wie es morgen sei, das müsse man dann sehen.

Sendung: rbb24 Abendschau, 07.02.2023, 19:30 Uhr

Beitrag von Sebastian Schneider, rbb|24

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