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Quelle: dpa/Monique Wuestenhagen

Interview | Jugendliche in der Corona-Pandemie

"Wir sehen mehr und schwerere Fälle von Essstörungen"

Die Pandemie kann Kinder und Jugendliche krank machen – auch über das Coronavirus hinaus. Christoph Correll, Direktor der Klinik für Jugend-Psychiatrie an der Charité, beobachtet eine besorgniserregende Zunahme von Essstörungen bei jungen Mädchen.

rbb|24: Herr Correll, es gibt Studien, etwa von Krankenkassen, nach denen Essstörungen besonders bei Mädchen während der Pandemie bundesweit zugenommen haben. Können Sie diese Entwicklung aus Ihrer Praxis bestätigen?

Christoph Correll: An der Charité in Berlin sehen wir ein vermehrtes Auftreten von Essstörungen - vor allem von Anorexia nervosa (Magersucht). Nicht nur, dass wir mehr hilfesuchende Familien, Kinder und Jugendliche haben, sondern das Krankheitsbild ist auch schwerer als sonst. Das ist problematisch und hat sicherlich damit zu tun, dass es weniger Korrektive im Umfeld gibt – Trainer, Lehrer, vielleicht auch Freunde.

Zur Person

Christoph Correll

Und wir denken auch, dass Essstörungen eine Form von Bewältigungsstrategie für diese Mädchen sind, die sich vielleicht sonst gut stabilisieren konnten – durch ganz viel Sport, Hobbys und soziale Aktivitäten. Sie geraten jetzt auf einmal aus dem Lot und können nicht mehr so "perfekt" sein. Stattdessen perfektionieren sie den Umgang mit dem eigenen Körper. Nach dem Motto: Ich kontrolliere zwar nicht die Pandemie, aber ich kontrolliere aktiv mein Gewicht und bin auf einmal wieder obenauf und nicht nur passiv dem Leben ausgesetzt. Diese Kontrollverlagerung kann aber natürlich dysfunktional sein.

Welche Kinder oder Jugendlichen sind betroffen?

An Magersucht erkranken zu 90 Prozent Mädchen, wobei über Jungs bisher auch weniger geforscht wurde. Meistens tritt die Krankheit am Übergang in die Pubertät oder innerhalb der Pubertät auf – wir sprechen hier vor allem von den 13- bis 17-Jährigen. Wenn die Magersucht chronisch wird, kann sie sich dann bis ins Erwachsenenalter ziehen. Und es ist ja leider die psychische Erkrankung, die auch mit der höchsten Sterblichkeit einhergeht, weil sie als Zentralelement der Erkrankung durch oft starkes Untergewicht bedrohliche körperliche Probleme mit sich bringt.

Wie bewerten Sie die Zunahme der Magersuchterkrankungen während der Pandemie?

Als sehr besorgniserregend. Das wird uns von allen Kinder- und Jugendpsychiatrien in Berlin, aber auch in ganz Deutschland gespiegelt. Die Zahlen sind ungefähr um die Hälfte gestiegen - aber eben nicht nur die Anzahl ist gestiegen, sondern auch der Schweregrad. Und die Fälle, die bei uns in der Klinik aufschlagen, sind natürlich nur die akute Spitze eines Eisbergs.

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Ist das Problem vielleicht noch viel größer, gibt es eine hohe Dunkelziffer?

Ganz genau. Wir gehen davon aus, dass es auch viele unerkannte Kinder und Jugendliche gibt, die mit einer Essstörung zu tun haben. Das gilt ebenso für die Bulimie - auch diese Essstörung kann einen Regulationsmechanismus als Stressabwehr und zur Selbststabilisierung darstellen, der häufiger bei Mädchen als bei Jungs auftritt. Und wir haben natürlich auch das Problem an andern Ende des Gewichtsspektrums, also Fettleibigkeit und die Kompensation durch zu viel essen, bedingt durch den Mangel an Struktur in der Pandemie oder zur Kompensation ungestillter Bedürfnisse.

Wie unterscheiden sich denn Magersucht und Bulimie?

Bei der Magersucht steht der starke Gewichtsverlust im Vordergrund. Und die Idee zu dick zu sein, obwohl man objektiv betrachtet nicht zu dick, sondern sogar zu dünn ist. Dann gibt es zwei Formen der Magersucht: Entweder ich reduziere die Kalorien, die ich täglich zu mir nehme oder ich erbreche oder nutze Abführungsmittel - aber letztendlich geht es immer ums Untergewicht und bedrohlichen Gewichtsverlust. Bei der Bulimie haben die betroffenen Jugendlichen häufig Normalgewicht oder sogar ein bisschen Übergewicht. Es kommt zu Fressattacken, die dann Schuldgefühle auslösen und zum Erbrechen führen. Eine klare Unterscheidungshilfe für Eltern ist: Wenn jemand sehr dünn ist oder immer dünner wird und nur noch Kalorien zählt, besteht das Risiko einer Magersucht. Wenn jemand Fressattacken hat und häufig nach dem Essen auf dem Klo verschwindet, vielleicht auch etwas riecht danach, dann muss man eher an Bulimie denken.

Sie sprechen von einem Mangel an Struktur – warum ist die Pandemie sonst noch so belastend für Kinder und Jugendliche?

Es gibt noch andere Elemente, zum Beispiel die soziale Isolation, der Stress, in der Schule gut sein zu müssen, aber vielleicht im Homeschooling nicht alles zu verstehen, die Eltern verlieren vielleicht ihren Job – wenn sich Druck erhöht, kommt es immer darauf an, wie gut wir damit umgehen können.

Welche Rolle spielen das Internet und die sozialen Medien?

Kinder und Jugendliche, die sich jetzt weniger mit Freunden treffen, weniger Zeit mit ihren Hobbys oder in der Schule verbringen, sind noch mehr in den Medien unterwegs. Das Handy ist die beste Freundin. Bestimmte Internetseiten oder Netzwerke sind aber relativ toxisch, gerade für Jugendliche, wenn es ganz stark um Körperbilder und den Vergleich mit anderen geht: Wie dünn muss ich sein, um als schön zu gelten? Man weiß noch gar nicht, wer man eigentlich ist, definiert sich sehr stark über das Außen. Es gibt leider auch Internetseiten, auf denen Essgestörte im Wettbewerb miteinander liegen und Bilder miteinander tauschen, wie dünn man sein muss oder sein kann. So etwas kann auch Auslöser für eine Essstörung sein oder diese verstärken.

Umfrage

COH-FIT-Studie

Was können Eltern und Bezugspersonen von betroffenen Kindern und Jugendlichen tun?

Das wichtigste ist: Kommunikation. Das ist natürlich schwierig, weil sich die Jugend auch dadurch auszeichnet, sich von den Eltern abgrenzen zu wollen, nichts zu sagen, sich zurückzuziehen. Da muss ich mich fragen: Was ist für mein Kind wichtig? Wie schlecht geht es ihm eventuell – fühlt es sich ängstlich oder depressiv? Fehlt ihm Stabilität, braucht es eine Tagesstruktur, sinnvolle Aktivitäten? Wenn wir da dran bleiben, fangen wir auch teilweise den psychosozialen Stress ab, der ansonstem zu einem Krankheitsausbruch – und das müssen nicht nur Essstörungen sein – führen kann. Eltern sollten immer auf Veränderungen achten, zum Beispiel in Bezug auf Schlaf, Essen, Gewicht, Freude und Mediennutzung. Das alles gehört zur Vorbeugung – also dann schon gegenzusteuern, sinnvolle Aktivitäten vorzuschlagen, vielleicht auch wieder soziale Kontakte anzubahnen, selbst wenn das im Moment nicht so leicht ist mit der Pandemie.

Und wenn mein Kind bereits eine Essstörung entwickelt hat?

Dann muss man sich professionelle Hilfe suchen – auch gegen den Widerstand der Kinder oder Jugendlichen. Essgestörte, gerade mit Anorexie, setzen ihre Erkrankung oftmals als Druckmittel ein: "Wenn du das machst, dann esse ich gar nichts mehr und dann hasse dich." Da holen sich Eltern manchmal auch erst zu spät Hilfe, weil sie eigentlich ein gutes Verhältnis zu ihrem Kind haben wollen. Aber sie kommunizieren dann gar nicht mehr mit ihrer Tochter oder ihrem Sohn, sondern mit der Krankheit. Und von der darf man sich nicht beherrschen lassen. Das ist nicht immer leicht, jetzt wo Therapieplätze auch geringer und schwerer zu finden sind. Aber man darf so etwas nicht verschleppen.

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Aktuell gibt es nicht genügend Therapieplätze. Wo sonst sehen Sie Handlungsbedarf?

Die Pandemie ist eine Herausforderung: Es gibt schon jetzt mehr psychische Erkrankungen, die vielleicht noch gar nicht erkannt sind oder bei denen sich die Betroffenen nicht an Hilfestellen wenden, weil sie noch nicht wissen, dass sie krank sind. Aber wir können die Pandemie auch als Chance begreifen, um psychische Erkrankungen zu entstigmatisieren und zu sagen: Wir alle leiden unter einem Druck. Da gibt es verschiedene Ausprägungen, das können depressive Gedanken, Angst oder Essstörungen sein. Das betrifft nicht nur irgendwelche komischen Randgruppen. Wir alle sind vulnerabel.

Außerdem braucht es Aufklärungskampagnen - über frühe Anzeichen von psychischen Problemen oder Erkrankungen – und niederschwellige Hilfsangebote.

Vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Jana Herrmann.

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