rbb24
  1. rbb|24
  2. Panorama
Video: Abendschau | 31.01.2022 | Tom Garus | Quelle: rbb

Kinder- und Jugendhilfe in Berlin

Ohne corona-positive Mitarbeitende geht es nicht mehr

Kitas und Schulen haben zu kämpfen, aber sind präsent in der Corona-Politik. Die stationäre Kinder- und Jugendhilfe hingegen fühlt sich übersehen. Dabei seien Geld und Personal schon vor der Pandemie knapp gewesen. Von Konrad Spremberg

Corona-positiv zur Arbeit kommen, irgendwann, in absoluten Notfällen? "Das machen wir schon seit Wochen so." Silke Bishop kann zu dem, was Berlins Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey für das Gesundheitssystem vorschlägt, nur die Schultern zucken.

Die Geschäftsführerin von "Kinder lernen Leben" (KileLe), einem gemeinnützigen Träger der Kinder und Jugendhilfe in Berlin, möchte ihren Schützlingen ein Stück Alltag ermöglichen. Da war der Coronatest der Betreuenden schon mehrmals zweitrangig. "Ein ständiger Konflikt zwischen Arbeitsrecht, Corona-Auflagen und Kindeswohl", sagt Silke Bishop. Anders ginge es nicht.

Die Erschöpfung wächst, die Rücklagen schrumpfen

Müssen die jungen Klient:innen bei KileLe in Quarantäne oder Isolation, kann Silke Bishops Team sie nicht einfach nach Hause schicken. Denn ihr Zuhause, das ist hier, in einem der 20 Wohnprojekte des Trägers. Personal und Geld waren schon vor der Pandemie knapp. Seit Corona wächst die Erschöpfung, während die Rücklagen schrumpfen.

Darum hat Silke Bishop dem rbb geschrieben: Sie und ihre Mitstreiter:innen fühlten sich politisch völlig vergessen. Es ist nicht ihr erster Brief dieser Art. Vor elf Monaten schrieb sie gemeinsam mit anderen freien Trägern aus Marzahn-Hellersdorf an die Politik. Sie hakten nach, versuchten es auch über Parteibüros: keine Antwort. Weder vom Bundesfamilienministerium, damals noch unter Franziska Giffey, noch von der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie kam irgendetwas zurück.

#Wiegehtesuns? | Kinderhilfe

"Es ist, als wäre man einfach mehrere Eltern"

Die Schulen öffnen, aber noch nicht für alle. Gerade Kinder in betreuten Wohngruppen sind besonders bedürftig. Die Arbeit für die Erzieher dort ist entsprechend stressig. Umso mehr bewundert Uwe P. den Einsatz seiner Kollegen während der Corona-Krise - ein Protokoll.

Zu wenig Aufmerksamkeit, zu wenig Geld

Die Briefe handeln von zwei ganz unterschiedlichen Wünschen: nach Aufmerksamkeit und nach handfester Unterstützung. Während die Probleme der Kitas und Schulen in der Pandemie viel diskutiert würden, bliebe die Kinder- und Jugendhilfe unter dem Radar. Die Lebensgeschichten der jungen Menschen, oft geprägt von schweren psychischen Erkrankungen, Missbrauch oder Sucht zuhause, machten das Ringen um Aufmerksamkeit nicht einfacher.

Leichter zu erfüllen wären die handfesten Corona-Bedürfnisse in der täglichen Betreuungsarbeit – gäbe es denn mehr Unterstützung. Das fängt beim Personal an: Müssen einzelne Kinder in Quarantäne, fällt die Schule aus oder erkranken Kolleg:innen, kostet das Überstunden. Die zuständige Senatsverwaltung verweist nach rbb-Anfrage auf Unterstützungsmöglichkeiten durch mobile Lernhilfe-Teams, mehrere Betreiber:innen haben das Angebot schon dankend angenommen. Die Teams können zumindest gesunde Schulkinder einige Stunden lang unterstützen. Allerdings: Nicht alle Kinder lassen unbekannte Erwachsene überhaupt in ihren Alltag.

Corona-Prämien aus der eigenen Kasse

Für zusätzliche Stellen fehlen das Geld oder die Bewerbungen – oder beides. Die Einrichtungen der stationären Kinder- und Jugendhilfe werden je belegtem Platz finanziert. Die Bezahlung ist ohnehin schlechter als im Öffentlichen Dienst. Corona senkt die Einkünfte der Einrichtungen dann zusätzlich, wenn betreute Jugendliche mit Covid-19 isoliert werden müssen und eine Vollbelegung der Wohnräume nicht mehr möglich ist. Die Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie schreibt, sie würde auf Antrag Räume finanzieren, die extra für die Quarantäne angemietet werden. Zum Auffangen der kurzfristigen Engpässe reicht das oft nicht aus, zumal Räume im akuten Krisenfall noch gesucht, ausgerüstet und betreut werden müssen – für KileLe ist das personell nicht mehr zu leisten.

So bleibt den Beschäftigten nur, Verwaltungs- und Betreuungsarbeit zu jonglieren, während die Träger ihre Angestellten unbedingt bei sich zu behalten versuchen. Dafür hätte sich Silke Bishop besondere Unterstützung vom Staat gewünscht: Gefahrenzulagen oder Corona-Prämien, wie sie andere Berufsgruppen bekommen haben. Weil es die nicht gab, zahlte KileLe Prämien aus den eigenen Rücklagen und leistet sich noch immer Zuschläge für Mitarbeitende, die direkt mit akuten Corona-Fällen arbeiten. "Die Kolleg:innen verstehen nicht, dass alle möglichen Bereiche Rettungsschirme und Zuschüsse bekommen haben, während für uns nicht mal geklatscht wurde."

#Wiegehtesuns? | Die Schuldirektorin

"Schule bewegt sich teilweise in einer Grauzone"

400 Schülerinnen und Schüler, zu wenig Personal, eine Flut von Regeln, unzufriedene Eltern, Übergangslösungen und täglich andere Arbeitsbedingungen. Warum seit Corona jeder Tag eine einzige Herausforderung ist. Ein Gesprächsprotokoll.

Keine Anerkennung, kein Dankeschön

Der Senat bereitet inzwischen eine Art Corona-Bonus für die Kinder- und Jugendhilfe vor: einmalig 200 Euro pro Platz in den stationären Einrichtungen, "zur Stabilisierung des Personaleinsatzes". Das macht für KileLe etwa 38.000 Euro Einmalzahlung. "Eine nette Geste", so Bishop. Demgegenüber: 110.000 Euro Extraausgaben allein im ersten Pandemie-Jahr, nur für Überstunden und Schutzausrüstung.

Silke Bishop hätte sich mehr und frühere Kompensation gewünscht. "Es kann nicht sein, dass wir das ganze Corona-Krisenmanagement als selbstverständliche, kostenfreie Leistung anbieten, ohne dafür irgendeine Art von Anerkennung oder Dankeschön zu bekommen." Ähnliches äußern auch andere Träger im Gespräch mit dem rbb. Mehrere betonen aber gleichzeitig die großen Mühen der zuständigen Senatsstellen: "Die tun, was sie können – mit begrenzten Mitteln."

"Systemrelevant? Die Kinder- und Jugendhilfe scheint es nicht zu sein"

Auch Romina Gravina ist die Erschöpfung anzuhören. "Systemrelevant? Die Kinder- und Jugendhilfe scheint es nicht zu sein." Gravina arbeitet in leitender Position beim freien Träger abw Berlin. Dass sich etwas verändert, merken ihr zufolge inzwischen auch die Jüngsten. Auf einmal hätten sie manchmal Angst um ihre Betreuer:innen, wegen Corona: "Unsere Kids musste sich früher keine Sorgen um uns machen", sagt Gravina.

Romina Gravina glaubt aber, dass die größte Herausforderung erst noch kommt – nach der Pandemie. Aktuell gingen Jahre der pubertären Entwicklung verloren. Die Jugendlichen müssten einfach nur funktionieren, während eigentlich ganz andere Dinge dran wären. Daraus entstehe künftig Unterstützungsbedarf bei noch mehr jungen Menschen als bisher. "Es wird eine Explosion in der Kinder- und Jugendhilfe geben", sagt Gravina.

Umso wichtiger ist es, dass die Hilfseinrichtungen dann noch funktionieren.

Sendung: Abendschau, 31.01.2022, 19:30 Uhr

Beitrag von Konrad Spremberg

Artikel im mobilen Angebot lesen