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Quelle: dpa/Felix Kästle

Interview | Elternsprecherin in Berlin

"Schule und Abitur sind zum Lottospiel geworden"

Elternsprecherin im Corona-Jahr zu sein ist eine echte Herausforderung. Vom Aufwand her "fast ein Zweitjob", sagt Susanne Dietrich. Deren Tochter geht auf ein Berliner Gymnasium und soll bald Abitur machen - obwohl vollkommen unklar ist, wann und wie.

rbb|24: Frau Dietrich, Sie sind Elternsprecherin an einem Berliner Gymnasium, an dem ihre Tochter in diesem Frühjahr Abitur machen soll. Nimmt Sie die Arbeit als Elternsprecherin derzeit sehr in Anspruch oder läuft das eigentlich wie immer?

Susanne Dietrich: Ich bin seit fast sechs Jahren immer wieder Elternsprecherin und Gesamtelternvertreterin und es läuft überhaupt nicht wie sonst. Es bedeutet zwar immer ein bisschen Arbeit, aber seitdem es Corona gibt, hat das fast die Ausmaße eines Zweitjobs angenommen. Wir Elternvertreter werden ja auch als Kontakt von den Lehrern "benutzt", um Aufgaben, Entscheidungen und Neuigkeiten an die Eltern und Schüler weiterzutragen. Das ist sehr zeitraubend. Es sind derzeit in der Woche mindestens fünf Stunden.

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Sind sich die Eltern denn weitgehend einig, was sie für die Schüler wollen oder gibt es viel Hin und Her?

Das ist sehr unterschiedlich. Jetzt hatten wir gerade eine Art Patt-Situation, die am vergangenen Wochenende (8./9./10.1.) aufkam. Denn der Berliner Senat hat da ja die Entscheidung, ob die Abschlussklassen im Präsenzunterricht beschult werden sollen, an die Schulleiter und Elternvertreter weitergereicht. Wir haben da dann also eine Doodle-Umfrage unter den Eltern gestartet, um deren Feedback einzuholen. Da haben fast alle Eltern des Abschlussjahrgangs mitgemacht. Die Abstimmung war leider im Ergebnis nicht besonders eindeutig. Es gab eine leichte Mehrheit der Eltern, die die Kinder trotz aller Widrigkeiten lieber wieder beschult hätten. Ein etwas kleinerer Teil wollte das auf keinen Fall. Dann wurde in Abstimmung mit Schülern, Schulleitung und Elternvertretern entschieden, in der Woche vom 11. bis 15.1. weiter Distanzunterricht zu machen. In der Folgewoche ist ein Präsenztag angedacht. Das soll aber am 19.1. anhand der Infektionszahlen final entschieden werden.

Viele Eltern sind unter Druck, wenn jetzt – in diesen letzten acht Wochen vor dem Abitur – keine Beschulung durch Präsenzunterricht stattfindet. Denn der Senat hat zwar beschlossen, dass nur in prüfungsrelevanten Fächern Klausuren geschrieben werden - doch es stellt sich ja die Frage, wie die Lehrer in den anderen Fächern dann ohne Präsenzunterricht zu Noten kommen wollen. Das ist eine existenzielle Frage, weil dieses Semester voll in die Abiturnote miteinfließt.

Ich verstehe Sie richtig: Jede einzelne Berliner Schule entscheidet gerade selbst, ob die Abiturienten Präsenzunterricht haben oder nicht?

Ja, das hat jede Schule in Absprache mit den Elternvertretern für sich selbst entschieden. Der Schulleiter hat die Entscheidung dann mit der Schulaufsicht abgesprochen. Die Schulaufsicht winkt diese Entscheidungen aber natürlich durch, weil man dort natürlich genau so im Wind und Regen steht wie die Schulen auch.

Da hier in Berlin ein Zentralabitur geschrieben wird, haben doch Schüler, deren Schulen sich für Präsenzunterricht entschieden haben, dann aber schon einen Vorteil gegenüber denen, die weiter allein zuhause sitzen?

Ja, das ist so. Wirklich zentral ist das nun in diesem Jahr dann nicht mehr.

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Das heißt, je nachdem, wie gut ein Schüler darin ist, autodidaktisch zu lernen, je größer ist jetzt seine Chance auf ein gutes Abitur?

Das kann man so sagen. Die Schüler haben natürlich immer die Möglichkeit, in den Sprechstunden mit den Lehrern und Tutoren Fragen zu stellen, aber das ersetzt natürlich nicht, was Lehrer im Präsenzunterricht an Wissen an die Schüler vermitteln.

Wie geht es den Schülern damit?

Meiner Tochter geht es damit sehr gut, weil sie das gut kann und super klarkommt. Aber ich kriege mit, dass es Mitschüler gibt, die wirklich richtig baden gehen. Das kann man wirklich so sagen. Schon im ersten Lockdown war das ja ähnlich. Das Ergebnis war, dass etwa 15 Prozent der Schüler sich dazu entschlossen haben, das Schuljahr freiwillig zu wiederholen, weil sie keine Chance für sich sahen, das Abi in einer guten und geeigneten Form zu machen.

Was wären aus Ihrer Sicht Lösungen für die Situation mit den Abiturienten?

Fairer wäre, wenn jetzt ganz schnell beschlossen würde, dass die Schüler ein halbes Jahr mehr Zeit bekommen und das Abitur erst im nächsten Winter stattfindet. Oder man spricht einfach über 13 und nicht zwölf Jahre. Anders ist es für mich kaum denkbar. So wie der Online- und Fernunterricht läuft, wird das nie funktionieren. Das fängt doch schon damit an, dass nicht jeder Schüler ein Gerät hat, um zuhause teilzunehmen. Etwa ein Drittel der Schüler macht das über das Smartphone, weil sie zuhause keinen Rechner haben.

Oder die Abitur-Richtlinien für dieses spezielle Abitur müssen geändert werden. Sodass es eben statt eines zentralen Abiturs schulgenauer wird. Dass die Schulen selbst eventuell die Abi-Aufgaben stellen – je nachdem, wie der Unterricht stattfinden konnte.

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Haben Sie ein gewisses Verständnis dafür, wie der Senat agiert oder fühlen Sie sich da total im Stich gelassen?

Der Senat hat die Schulen und auch die Eltern und Schüler ganz klar im Stich gelassen. Was da läuft, spricht von einem wahnsinnig schlechten Management und ist total verantwortungslos. Bei der Entscheidung, ob Präsenzunterricht stattfinden soll oder nicht, waren übrigens die Lehrer die einzigen, die überhaupt nicht vom Senat gefragt wurden. Bei uns an der Schule hatte uns der Schulleiter dann erklärt, dass die Lehrer eine Entscheidung für Präsenzunterricht durchaus mit Sorge gesehen haben – wegen des Ansteckungsrisikos. Aber sie wurden – als diejenigen, die von den Entscheidungen neben den Schülern direkt betroffen sind - offiziell eben gar nicht mit einbezogen. Da versagt der Berliner Senat wirklich auf ganzer Linie.

Haben Sie denn für die Haltung dieser Lehrer Verständnis?

Ich bin da hin- und hergerissen. Ich hätte als Elternteil eher dazu tendiert, den Präsenzunterricht stattfinden zu lassen. Trotzdem kann ich auch den Standpunkt der Lehrer verstehen, die das nicht wollen. Aber was ich nicht verstehe ist, warum man die Lehrer nicht dazu verpflichten kann, ordentlichen Online-Unterricht zu machen. Da hat doch die Politik auch versagt. Das hätte nach dem ersten Lockdown sofort gesetzlich festgelegt werden müssen. Aber es gibt da keine Richtlinien und jeder Lehrer kann für sich entscheiden, was er bereit ist zu machen. Da hat nicht einmal die Schulleitung eine Handhabe.

Es ist eine Art Lottospiel. Wer Glück hat, an einer guten Schule mit ambitionierten Lehrern zu sein, für den läuft es. Und wenn nicht, dann nicht.

Vielen Dank für das Gespräch.

 

Das Interview führte Sabine Priess, rbb|24

Sendung: Abendschau, 14.01.2021, 14 Uhr

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