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Audio: Inforadio | 13.04.2021 | Tobias Schmutzler | Quelle: dpa/Gregor Fischer

Klassen-Wiederholung in Berlin

Fast niemand will eine freiwillige "Ehrenrunde" drehen

Die Frist für das freiwillige Wiederholen einer Klassenstufe in Berlin läuft ab. Bisher nutzen offenbar wenige Eltern von Schülern das Angebot. Nicht nur Juristen bezweifeln derweil, ob die Deadline überhaupt verbindlich ist. Von Tobias Schmutzler

Über zu wenig Arbeit kann sich Heike Lemke-Wegener nicht beklagen - am ersten Schultag nach den Osterferien hangelt sich die Schulleiterin von Termin zu Termin. Doch bei allem Stress hat die Chefin des Friedrich-Engels-Gymnasiums in Berlin-Reinickendorf ein Datum fest im Blick: den 13. April. An diesem Dienstag läuft die vom Berliner Senat gesetzte Frist aus, bis zu der Eltern ihre Kinder für eine freiwillige "Ehrenrunde" anmelden können.

"Wir haben gut 1.000 Schülerinnen und Schüler - aber bisher keinen einzigen Antrag auf freiwilliges Wiederholen bekommen", wundert sich Lemke-Wegener. Nachdem das Abgeordnetenhaus die neue Regelung Ende Februar beschlossen hatte, schlugen Schulleitungsverbände Alarm: Ein organisatorisches Chaos drohe, mit überfüllten Klassen und überforderten Schulverwaltungen.

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An mehreren Schulen nur eine Handvoll Anträge

Doch jetzt scheint die große Welle auszubleiben. Offizielle Zahlen gibt es zwar noch nicht, wie die Senatsverwaltung für Bildung auf rbb-Anfrage betont. Eine nicht repräsentative Abfrage des rbb bei mehreren Schulleitungen und deren Verbänden einen Tag vor Fristablauf legt allerdings nahe, dass bisher nur wenige Eltern beantragt haben, dass ihre Kinder freiwillig eine Stufe wiederholen.

So berichtet Astrid-Sabine Busse von der Grundschule in der Köllnischen Heide in Neukölln, bei ihr sei bisher kein einziger Antrag eingegangen, obwohl die Schule 650 Kinder zählt. Ein weiteres Beispiel ist die Gustav-Freytag-Schule in Reinickendorf: Schulleiter Hendrik Nitsch erreichten bei über 420 Schülern bisher nur vier Anträge. "Ich hatte mit mehr gerechnet", sagt Nitsch. Bei seinem Kollegen Henning Rußbült vom Spandauer Hans-Carossa-Gymnasium haben sich bisher gerade mal zwei Elternpaare gemeldet - dabei besuchen 800 Kinder die Sekundarstufe I in der Gatower Schule.

Trotz Elternbriefen wenig Interesse

Auch bei Sven Zimmerschied von der Charlottenburger Friedensburg-Schule sind bisher nur fünf Anträge eingegangen – erstaunlich wenig bei über 800 Mittelstuflern, für die die neue Regelung in Frage kommt. Und zu guter Letzt die Christian-Morgenstern-Grundschule in Spandau: Schulleiterin Karina Jehniche berichtet von vier Anträgen bei theoretisch 460 Schülerinnen und Schülern, die die neue Regel nutzen könnten.

Warum ist der Rücklauf bisher so gering? Zumindest im Fall des Friedrich-Engels-Gymnasiums in Reinickendorf kann es nicht daran liegen, dass die Erziehungsberechtigten nichts von der Frist gewusst hätten. Schulleiterin Lemke-Wegener hatte extra vor den Osterferien einen Elternbrief zum Thema verschickt. Auch ihr Kollege Hendrik Nitsch von der Gustav-Freytag-Schule veröffentlichte auf der Homepage und auf dem digitalen Schwarzen Brett seiner Schule ein entsprechendes Schreiben an die Eltern.

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Eine gute Nachricht - aus Sicht der Schulleitungen

Aus Sicht vieler Schulleitungen ist es so oder so eine gute Nachricht, dass bisher offenbar nur wenige einen Antrag verschickt haben. "Kein Kind wiederholt gerne eine Klassenstufe", meint Schulleiterin Lemke-Wegener. Wer eine "Ehrenrunde" drehe, werde aus dem Klassenverband gerissen, was für das einzelne Kind durchaus mit Problemen verbunden sein könne.

Dem pflichtet Schulleiterkollege Hendrik Nitsch aus Reinickendorf bei: "Die Klasse zu wechseln, ist schwierig für Schüler. Früher kam es doch öfter mal zu Hänseleien auf dem Schulhof - nach dem Motto: 'Du bist jetzt eine Klasse tiefer und ein Loser.'" Solche Folgen könnten auch jetzt drohen, wenn Kinder aus freien Stücken eine Stufe nochmal besuchen, glaubt Nitsch.

Für neue Klassen fehlen Personal und Räume

Anstelle des freiwilligen Wiederholens wirbt Heike Lemke-Wegener bei Eltern dafür, auf Lehrerinnen und Lehrer zu vertrauen: Der in der Corona-Zeit verlorene Lernstoff werde sowieso nachgeholt, aber eben gemeinsam im Klassenverband, verspricht die Schulleiterin des Friedrich-Engels-Gymnasiums. Nicht nur sie fürchtet, dass mit jeder Schülerin und jedem Schüler, die freiwillig nochmal antreten wollen, die Organisation komplizierter wird.

Das treibt auch Henning Rußbült vom Gatower Hans-Carossa-Gymnasium um. Er betont, wie groß in diesem Jahr schon allein deshalb der Aufwand sein wird, weil voraussichtlich viel mehr Schüler wegen schlechter Noten nicht versetzt werden können. Seine größte Sorge wäre, im neuen Schuljahr komplett neue Klassen einrichten zu müssen. Denn dafür fehlten seiner Schule Personal und Räume.

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Ist die Frist bis zum 13. April rechtlich verbindlich?

Aber egal, ob man das freiwillige Wiederholen sinnvoll findet oder nicht: In jedem Fall zu hinterfragen ist die Frist, die die Senatsverwaltung für Bildung auf den 13. April festgesetzt hat. "Nach meiner Einschätzung ist die Frist nicht bindend", sagt der Reinickendorfer Schulleiter Hendrik Nitsch. "Meines Erachtens - und so wurde es auch von der Schulaufsicht kommuniziert - können die Eltern rein rechtlich bis zu den Ferien ihre Anträge stellen."

Das bekräftigt der Staats- und Verwaltungsrechtler Christian Pestalozza. "Ich deute das eher als einen Wunsch der Senatsverwaltung", so der emeritierte Professor an der Freien Universität Berlin. Einen festen Termin als Frist hätte das Abgeordnetenhaus direkt ins Gesetz schreiben müssen, damit die Deadline rechtssicher gewesen wäre, sagt Pestalozza. "Das hat man nicht gemacht - vielleicht, weil man es für eine Randfrage gehalten hat." Stattdessen steht die Frist bis 13. April nun lediglich in einer Verwaltungsvorschrift der Bildungsverwaltung. Diese Regelung dürfte für Eltern aber nicht verbindlich sein.

"Antragsflut wäre eine Katastrophe"

Viele Schulleitungen machen sich deshalb schon jetzt Sorgen, was noch auf sie zukommen wird. "Wenn irgendwann eine Flut an Anträgen käme, wäre das eine Katastrophe", sagt Heike Lemke-Wegener vom Friedrich-Engels-Gymnasium. Je später die Anträge eintrudelten, desto schwerer handhabbar werde die Organisation für die Schulleitungen.

Es werden aber sicherlich noch mehr Anträge als aktuell - damit rechnet Hendrik Nitsch in Reinickendorf fest. "Wenn die Schülerinnen und Schüler in einigen Wochen besser über ihre Noten Bescheid wissen, werden einige wach werden", prognostiziert der Schulleiter der Gustav-Freytag-Schule. Schwarz auf Weiß würden vielen die massiven Lernrückstände dann bewusst. Und dann kommt sie vielleicht doch noch, die befürchtete Welle der freiwilligen Wiederholer - die Frage ist nur, wie groß.

Sendung: Inforadio, 12.04.2021

Beitrag von Tobias Schmutzler

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