Kriminalpsychologin zu Mordfall Burak Bektas
Zwei Jahre ist es her, dass Burak Bektas in Neukölln erschossen wurde. Von dem Täter fehlt nach wie vor jede Spur. Birgitta Sticher, Kriminalpsychologin an der Berliner Hochschule für Wirtschaft und Recht, unterstützt die Polizei häufiger als eine Art Profilerin. Im Fall Bektas war sie nicht an den Untersuchungen beteiligt. Ihre Analyse im Interview mit Torsten Mandalka beruht auf den Recherchen des rbb.
Natürlich wird die Wahrscheinlichkeit, den Täter zu finden, immer geringer. Trotzdem gibt es noch Chancen: Es könnte sein, dass der Täter Bekannten von seiner Tat erzählt hat, die damals nichts sagen wollten. Heute sind sie vielleicht bereit, etwas zu sagen. Weil sie die Gefahr spüren, dass er es noch einmal tun könnte.
Eine andere Möglichkeit ist, dass sich jemand auf einmal an irgendeine Beobachtung erinnert, die er zunächst für unwichtig hielt und die jetzt plötzlich eine Bedeutung bekommt. Das sind die beiden Hoffnungen. Aber dass die, die damals dabei waren, noch einmal ganz neue Erinnerungen haben, das ist gedächtnispsychologisch unwahrscheinlich.
Mich macht das erstmal ziemlich betroffen. Da stehen fünf junge Leute und werden aus heiterem Himmel zum Opfer. Und einer stirbt. Das macht betroffen, auch wenn man sich professionell damit beschäftigt. Was wir wissen ist: eine Person taucht auf, zu einer Uhrzeit, zu der normalerweise nicht viele Leute auf der Straße sind – um 1.15 Uhr. Sie schießt einfach. Auf die Personen – frontal – und geht wieder weg.
Die erste Frage, die man sich stellt: War das eine Beziehungstat? Doch bei den Ermittlungen konnte dieser Kontext nicht hergestellt werden. Zweite Frage: Hat diese Person sich vielleicht vertan? Gibt es Leute, die sich immer oder häufig zu dieser Zeit an diesem Ort treffen, die eigentlich gemeint waren? War es ein dummer Zufall, dass jetzt andere Leute dort standen? Aber der Treffpunkt ist keiner, der bei bestimmten Gruppen beliebt ist. Deshalb stellt sich als nächstes die Frage: Was ist der Täter für eine Person?
Ich stelle mir eine Person vor, die sozial stark isoliert und mit ihrer eigenen Situation sehr unzufrieden ist. Vielleicht ist sie in ihren sozialen Beziehungen gescheitert und sucht nach Erklärungen. Und verlagert die Hassgefühle, die eigentlich dem eigenen Leben gelten, auf andere.
Es ist hierzulande ja nicht so leicht, an eine Waffe zu kommen. Und das zeigt: Entweder fühlt sich diese Person in ihrer Weltsicht so bedroht, dass sie den Eindruck hat, sie muss sich verteidigen. Oder sie hat eine besondere Form von Liebe zu Waffen, eine Affinität. Dass sie mit einer Waffe nachts durch die Straßen läuft, könnte ein weiterer Hinweis darauf sein, dass sie sich bedroht fühlt. Oder dass sie von vornherein die Absicht hat, die Waffe auch einzusetzen.
Ich halte es für wahrscheinlich, dass der Täter massive Hassgefühle hatte, die ihn zu dieser Tat motiviert haben. Und Rechtsextremismus hat auch sehr viel mit Hass zu tun. Deswegen könnte es einen Zusammenhang geben. Aber ich kann nur sagen: die Polizei hat gründlich ermittelt, aber keine klaren Hinweise darauf gefunden.
Es lässt vielleicht darauf schließen, dass er für sich mit dieser Handlung ein Thema beendet hat. Dass er sein Bild von sich selbst bestätigen konnte: Ich habe es denen gezeigt, ich habe was ausgelöst, ich habe sie in Schrecken versetzt. Und damit ist es für ihn gut. Es gibt aber auch Täter, die nach längerer Zeit erneut zuschlagen – weil einmal eine Schwelle übersprungen worden ist und es in der Phantasie die ganze Zeit weiter arbeitet.
Das eigene Kind zu verlieren, vollkommen unerwartet, in einem Alter, in dem alles auf Aufbruch gerichtet ist, auf eine hoffnungsvolle Zukunft – das ist das Schlimmste, was Eltern passieren kann. Der Täter hinterlässt nicht nur das Opfer selbst, die ganze Familie, der ganze Freundeskreis wird zum Opfer. Dieser plötzliche und völlig unsinnige Verlust löst ein schweres Trauma aus.
Die Trauma-Verarbeitung ist ein Prozess. Das eine ist, das Geschehen selbst zu verarbeiten. Das andere ist, wie man in der Gemeinschaft damit umgeht. Ich habe mich sehr gefreut zu sehen, wie die Gruppe zusammen gehalten hat, auch das soziale Umfeld insgesamt. Das ist eine wichtige Hilfe. Zu sagen: Wir halten zusammen. Wir rücken zusammen, um gemeinsam der Angst ins Gesicht zu sehen. Für die Familie ist diese soziale Unterstützung auch weiterhin wichtig.
Man braucht sich nur in die Rolle von Frau Bektas hineinversetzen: es entsteht Hoffnung. Und wenn diese Hoffnung dann nach kurzer Zeit wieder zerstört wird, dann ist das ein Auf und Ab, das sehr belastend ist. Die Hoffnung immer wieder neu zu enttäuschen tut weh.
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