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Audio: Antenne Brandenburg | 29.09.22 | Ronald Schleif | Quelle: dpa-news/Hauke-Christian Dittrich

Mögliche Wahlwiederholung

Berliner Verfassungsrichter gehen aufs Ganze

Urteilen der Justiz haftet immer wieder der Vorwurf der Unvereinbarkeit mit dem Volksempfinden an. Die Berliner Verfassungsrichter haben gezeigt, dass es auch anders geht. Von Christoph Reinhardt

Eine gute halbe Stunde hat das Vorgeplänkel gedauert: Auftaktbilder für die Fernseh-Kameras, alle bitte aufstehen für den Einzug des Gerichts, alle wieder hinsetzen. Die Berichterstatterin zur Rechten der Parlamentspräsidentin fasst noch einmal die bekannten Fakten vom Wahltag und den Stand des Verfahrens zusammen.

Um 11:38 Uhr blickt die Vorsitzende des Berliner Verfassungsgerichtshofes hoch zu den Hunderten Anwesenden im gut gefüllten Uni-Hörsaal, holt noch einmal Luft. "So", sagt Ludgera Selting - und lässt die Bombe platzen.

Berliner Verfassungsgericht

Gericht hält "vollständige Ungültigkeit" der Berlin-Wahl für möglich

Schlechte Vorbereitung, chaotischer Ablauf: Bei den Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus und zu den Bezirksverordnetenversammlungen zeichnet sich eine Wiederholung ab. Das wurde bei einer ersten Verhandlung des Verfassungsgerichts deutlich.

"Nur die Spitze des Eisbergs"

Für das Gericht "kommt die vollständige Ungültigkeit der Wahlen in Betracht", sagt die Präsidentin. Nur wenige im Saal hatten darauf gehofft und wahrscheinlich niemand wirklich damit gerechnet: Alle Direktbewerber in den 78 Wahlkreisen, alle Zweitstimmen für die Parteien müssten bei dieser Entscheidung neu gewählt werden – und die zwölf Bezirksverordnetenversammlungen.

Denn die vielen Fehler seien nur "die Spitze des Eisbergs", daran hat das Gericht keinen Zweifel. Sie seien zwar unzureichend dokumentiert und nicht exakt zu beziffern, aber trotzdem: mandatsrelevant, sagt Selting - vor allem in Richtung der Vertreter der Landeswahlleitung und des Senats, die das nur bei einem Bruchteil der Wahllokale anerkennen wollten. Tausende Wahlberechtigte seien von fehlenden Stimmzetteln, langen Schlangen und verlängerten Öffnungszeiten betroffen gewesen - und in ihren Rechten auf allgemeine, gleiche und freie Wahlen verletzt worden.

Vollklatsche für die Landeswahlleitung

Für die Verwaltung wird Seltings halbstündiger Vortrag zur Vollklatsche. Schon die Vorbereitung der Wahlen habe den rechtlichen Anforderungen nicht genügt. Und dass die Bedingungen am Wahltag "teilweise chaotisch" und für viele "unzumutbar" gewesen seien? Dafür sei maßgeblich die Landeswahlleitung verantwortlich, sowie die Senats-Innenverwaltung als Aufsichtsbehörde über die Bezirke.

Das Vertrauen in die Integrität des Wahlergebnisses sei durch die Schwere der Fehler erheblich beschädigt, so beschreibt Selting das eigentliche Ergebnis der Wahlen vor einem Jahr und die Abwägung des Gerichts: "Sollten sie nicht für ungültig erklärt werden, würde das Vertrauen in die Demokratie schwer geschädigt werden."

Dies sei jedenfalls die "erste und vorläufige" Beurteilung der Sach- und Rechtslage durch den Gerichtshof, betont die Präsidentin. Diese Einschätzung könne sich durchaus noch ändern, "an der einen oder anderen Stelle". Darüber solle ja heute verhandelt werden. Nach der Mittagspause. In der die Anwälte der Behördenvertreter ihre Besprechungsnotizen für ihre Gegenreden umsortieren, in der die Gerichtsprecherin die Kernbotschaft des Gerichts in die Kameras spricht und der CDU-Generalsekretär den Rücktritt des ehemaligen SPD-Innensenators fordert.

Mögliche Neuwahlen in Berlin

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"Ein sehr guter Tag für die Demokratie"

Als das Gericht 40 Minuten später wieder den Saal betritt, gibt es Beifall aus dem Zuschauer-Bereich. Eine kurze Irritation, die unter den strengen Blicken der Wachtmeister schnell wieder beendet ist. Aber das Lob für das Gericht von ungewohnter Seite geht weiter. "Dies ist ein sehr guter Tag für die Demokratie", sagt Kristin Brinker, die Landesvorsitzende der Berliner AfD, deren Landesverband eigentlich nur die Zweitstimmenwahl wiederholen lassen wollte. Die vorläufige Einschätzung des Gerichts sei “gut und richtig“, das Ergebnis nehme sie dankbar und demütig an.

Nach Brinker meldet sich Wolfgang Meyer von der "Querdenker"-nahen Partei Die Basis: Man schließe sich dem Gericht ausdrücklich an. Auch der Einzelkandidat Bernd Hinz aus Spandau lobt das Gericht: Wahlen müssten wieder viel heiliger, ernster genommen werden als zuletzt durch den Senat. "Die müssen schon einen vor den Bug bekommen, das müssen die Herrschaften schon lernen." Der Innensenator habe zugleich als Kandidat selbst zur Wahl gestanden, sie sei "manipuliert gewesen von vorne bis hinten".

Die Gerichtspräsidentin nimmt alle Stellungnahmen verbindlich entgegen. Keine Nachfragen, keine Diskussion zwischen Richtertisch und Publikum. Stunde um Stunde tragen die Beteiligten ihre Stellungnahmen vor. Die stellvertretende Landeswahlleiterin Ulrike Rockmann will den Vorwurf nicht akzeptieren, ihr Abschlussbericht beschreibe nur die Spitze des Eisbergs. "Wir kennen den ganzen Eisberg, er ist aufgeklärt." Fast alle Berliner hätten ordnungsgemäß wählen können, 9.000 bis 10.000 Stimmen seien problematisch gewesen, "von 1,8 Millionen Wahlberechtigten – das sind 0,5 Prozent".

"Sie schütten das Kind mit dem Bade aus"

Den mit Abstand größten Redeanteil beanspruchen die drei Anwälte der Innenverwaltung, mehr als eineinhalb Stunden dauern die Vorträge. "Sie schütten das Kind mit dem Bade aus", formuliert es Rechtsanwalt Ulrich Karpenstein zunächst vorsichtig und meint damit: Dass er die Gedanken des Berliner Verfassungsgerichtshof für unvereinbar mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hält.

Die Wahlen einfach komplett für ungültig zu erklären, sei das allerletzte Mittel – und nur dort erlaubt, wo die Fehler im Einzelnen nachgewiesen seien. Denn wer seine Stimme ordnungsgemäß abgegeben habe, habe auch den Anspruch, dass seine Stimme am Ende gezählt werde. "Ich bitte Sie, Ihre vorläufige Einschätzung zu überdenken", wirbt Karpensteins Kollegin Roya Sangi darum, nicht unter dem Druck einer missglückten Wahl die bisherigen rechtlichen Standards aufzugeben.

Es gehe um viel mehr als nur das Ergebnis einer Wahl zu verteidigen: "Fehlerfreie Wahlen wird es nie geben – wenn Sie jetzt anfangen, die strengen Maßstäbe zu lockern, könnten dadurch in Zukunft alle Wahlen blockiert werden." Denn wenn in Berlin künftig zum Beispiel die Öffnung eines Wahllokals bis nach 18 Uhr ein Grund für eine Wahlwiederholung sei, könnten Spaß- und Protestgruppen jede Wahl sprengen.

Der stellvertretende Bezirkswahlleiter Hauke Haverkamp aus Reinickendorf sieht darin eine "sehr große Gefahr". Dass auch in seinem Bezirk neu gewählt werden soll, will er nicht akzeptieren. Ein einziges Wahllokal habe es gegeben, in dem nach 18 Uhr Menschen ohne zu wählen nach Hause gegangen seien.

440 Wahllokale betroffen

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Bezirkswahlleiter protestieren

Seine Kollegen aus anderen Bezirken schließen sich an. "Für Spandau war es eine gute Wahl", sagt Bezirkswahlleiter Thomas Fischer: Wenige Fehler, alle Stimmzettel da, keine einzige Schließung. Auch Treptow-Köpenick will von einer flächendeckenden neuen Wahl nichts wissen, ebenso wenig wie Lichtenberg.

Und der stellvertretende Bezirkswahlleiter des Innenstadtbezirks Tempelhof-Schöneberg, Jens-Peter Eismann, meldet sich ganz zum Schluss der Verhandlung, um dem Gericht noch einmal zu sagen, dass die Wahl nicht in der ganzen Stadt chaotisch war: "Systematischem Gesamtversagen möchte ich entgegentreten".

Präsidentin Selting lässt auch nach fast sieben Stunden Verhandlung nicht erkennen, ob die vorläufige Einschätzung des Gerichts sich im Laufe der Verhandlung geändert haben könnte. Der Gerichtshof werde nun wie beschlossen weiter beraten und weitere Stellungnahmen im schriftlichen Verfahren heranziehen. Sie schließe nun die Sitzung, "danke für den interessanten Austausch". Über die weiteren Schritte werde man alle zeitnah unterrichten.

Sendung: rbb24 Inforadio, 29.09.2022, 7 Uhr

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Beitrag von Christoph Reinhardt

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