Berliner Verfassungsgericht - Gericht hält "vollständige Ungültigkeit" der Berlin-Wahl für möglich

Mi 28.09.22 | 20:26 Uhr
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Gut gefüllt ist der Hörsaal der Freien Universität Berlin in Dahlem bei der Verhandlung des Verfassungsgerichts. Das Verfassungsgericht verhandelt über die Gültigkeit der Berliner Wahl 2021. (Quelle: dpa/A. Riedl)
Video: rbb24 Abendschau | 28.09.2022 | Studiogespräch B. Hermel rbb24 Landespollitik | Bild: dpa/A. Riedl

Schlechte Vorbereitung, chaotischer Ablauf: Bei den Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus und zu den Bezirksverordnetenversammlungen zeichnet sich eine Wiederholung ab. Das wurde bei einer ersten Verhandlung des Verfassungsgerichts deutlich.

Der Berliner Verfassungsgerichtshof hält nach einer vorläufigen Einschätzung eine komplette Wiederholung der Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus sowie der Bezirksverordnetenversammlungen für erforderlich. Bei einer ersten Anhörung des Gerichts zu den Wahlpannen im Jahr 2021 sagte Gerichtspräsidentin Ludgera Selting, eine "vollständige Ungültigkeit" der Wahl komme in Betracht.

In einer Mitteilung vom Mittwoch erläuterte das Gericht seine erste Einschätzung, die auf der Prüfung von schriftlich ausgetauschten Argumenten der Beteiligten sowie von Unterlagen beruht. Demnach seien die Wahlen so unzureichend vorbereitet gewesen, dass ihr Gelingen schon vor Beginn in Gefahr war, heißt es. Wahlfehler, etwa durch falsche oder fehlende Stimmzettel, gab es nach Ansicht des Gerichts nicht nur während des Wahltags. Schon die unzureichende Vorbereitung einer Wahl sei als Wahlfehler zu werten.

Gerichtspräsidentin Selting betonte, es habe sich um Präsenzwahlen gehandelt. Das bedeute, dass alle die Wahlberechtigten die Möglichkeiten haben müssten, im Wahllokal zu wählen. Die Briefwahl stelle lediglich eine Alternative dar. Es sei jedoch zu unzumutbar langen Wartezeiten vor den Wahllokalen, zur zeitweisen Schließung von Wahllokalen und zur Austeilung von zu wenig oder falschen Stimmzetteln gekommen.

Gericht: Fehler mutmaßlich mandatsrelevant

Es hätten "teilweise chaotische" Zustände geherrscht, viele Wahllokale seien "völlig überlastet" gewesen, so der Verfassungsgerichtshof. Zudem habe ein Teil der Wählenden ihre Stimme abgegeben, während bereits erste Hochrechnungen in der Presse veröffentlicht wurden.

All diese Fehler seien nach einer vorläufigen Einschätzung mandatsrelevant gewesen - sie hatten nach Einschätzung des Gerichts also Auswirkungen auf die Zusammensetzung des Parlaments und die Verteilung der Mandate. Wohl nur durch eine komplette Wahlwiederholung könne ein verfassungskonformer Zustand herbeigeführt werden. Maßgeblich verantwortlich für das Gelingen der Wahl sei die Landeswahlleitung, die eine Kontroll- und Koordinierungspflicht habe.

Die Richter des Verfassungsgerichtshofs, r-l: Christian Burholt, Margarete Gräfin von Galen, Ahmet Kurt Alagün, Robert Wolfgang Seegmüller, Ludgera Selting (Präsidentin), Sabrina Schönrock, Jürgen Kipp, Sönke Hilbrans und Ulrike Lembke stehen vor der Verhandlung in einem Hörsaal der Freien Universität Berlin in Dahlem. Das Verfassungsgericht verhandelt über die Gültigkeit der Berliner Wahl 2021. (Quelle: dpa/A. Riedl)

Innenverwaltung: Sorge, dass bestehenden Mandate entwertet werden

Die ehemalige stellvertretende Landeswahlleiterin Ulrike Rockmann sah am Mittwoch hingegen keine Mandatsrelevanz hinsichtlich der Zweitstimmen und "kein flächendeckendes Versagen". Fast alle Wählerinnen und Wähler hätten ordnungsgemäß wählen können, so Rockmann, die nach der Wahl nur gegen das Erststimmenergebnis in zwei Wahlkreisen ihren Einwand eingelegt hatte.

Auch Staatssekretär Torsten Akmann (SPD) sagte für die Senatsinnenverwaltung, dass der überwiegende Teil der Wählerinnen und Wähler ihre Stimmen abgegeben hätten. Er habe die Sorge, dass bei einer vollständigen Wahlwiederholung die bestehenden Mandate entwertet werden.

AfD rechnet mit kompletter Wahl-Wiederholung im Frühjahr 2023

Die Berliner AfD-Fraktionsvorsitzende Kristin Brinker hingegen sagte, dass sie fest mit einer kompletten Wiederholung der Abgeordnetenhauswahl im nächsten Frühjahr rechne. "Ich würde mich wundern, wenn das Gericht da noch einen anderen Ausweg finden würde", sagte Brinker am Mittwoch am Rand der mündlichen Verhandlung des Verfassungsgerichtshofs.

"Insofern gehe ich persönlich davon aus, dass dieses vorläufige Urteil Bestand haben wird." Das Gericht müsse sich dann endgültig bis Ende Dezember festlegen. "Und dann wäre eine Wahl anzusetzen bis spätestens Ende März nächsten Jahres. Das wäre auch in unserem Sinne und im Sinne der Berliner", sagte die AfD-Fraktionschefin.

CDU, FDP und AfD fordern Geisels Rücktritt

Außerdem forderte Brinker den Rücktritt von Senator Andreas Geisel (SPD) - er war zum Zeitpunkt der Wahl im September 2021 Innensenator und steht inzwischen an der Spitze der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Bauen.

Rücktrittsforderungen kamen auch von CDU und FDP. "Ich finde es schlimm, dass bis heute weder die SPD noch der für das Wahlchaos verantwortliche Senator Andreas Geisel (SPD) Konsequenzen gezogen haben. Ich halte seinen Rücktritt für unausweichlich", sagte Berlins CDU-Generalsekretär Stefan Evers. Der Berliner FDP-Landesvorsitzende und Bundestagsabgeordnete Christoph Meyer sprach davon, dass Geisel "als seinerzeit zuständiger Senator nicht mehr zu halten" sei.

Polizei sicherte Verhandlung ab

Das Berliner Verfassungsgericht hatte sich am Mittwoch erstmals mit den Wahlpannen im vergangenen Jahr beschäftigt. Von den insgesamt 35 Einsprüchen wurden zunächst vier verhandelt. Dabei ging es um die Beschwerden des Senats, der Landeswahlleitung sowie der Parteien AfD und Die Partei. Über weitere Wahlprüfungsanträge will das Gericht später entscheiden.

Um die Verhandlung am Verfassungsgerichtshof über die Gültigkeit der Wahl abzusichern, waren rund 80 Justizwachtmeister und Polizisten im Einsatz. Verhandelt wurde wegen der ungewöhnlich großen Zahl von Verfahrensbeteiligten in einem großen Hörsaal der Freien Universität in Berlin-Dahlem, in dem bis zu 570 Teilnehmer Platz finden.

Sendung: rbb24, 28.09.2022, 13:00 Uhr

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157 Kommentare

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  1. 157.

    "Bei einigen hier ist der Name wohl vom Promillegehalt abhängig.
    Bei Ihnen auch?"

    Es ist schon erstaunlich wie hier die Nettiquette ausgelegt wird. In jeden anderen Forum hätte das ein paar Tage bordurlaub nach sich gezogen.

    Aber um ihnen die Frage zu beantwort, "nebenan" wurde der thread ja feige geschlossen. Nein. Ich könnte mir gar nicht soviel wegsaufen wie wenig Verstand hier einige haben, was sich in deren Kommentaren äußert.

    https://www.rbb24.de/politik/beitrag/2022/09/verfassungsgerichtshof-berlin-wahlwiederholung-analyse.html

  2. 156.

    "Erstaunlich wer sich hier so alles als "Wahlhelfer" tituliert."

    Mich interessiert auch wirklich, wer entschieden hat, dass die Wahlen nach 18 Uhr noch möglich waren?

  3. 155.

    "Erstaunlich wer sich hier so alles als "Wahlhelfer" tituliert."

    Alle angeblichen "Wahlhelfer" sind ebenso Schuld an der Misere!
    Ich habe eine Eigentümergemeinschaft über Jahre als "Verwalter" ehrenamtlich geleitet.
    Ich habe mich Wochen auf eine Versammlung vorbereitet.
    Nur Anwesend und das "Futtergeld" kassieren war wohl nicht.
    Eine Wahl sollte auch wohl schon drei tage vorher in "trockenen Tüchern" sein.
    Keine, falsche Wajlzettel....ohne Worte

  4. 152.

    Es ist schon ein Trauerspiel im Jahr 73 nach dem Inkrafttreten des Bonner Grundgesetzes aber dem Grunde nach ist es noch viel schlimmer, denn weder das Berliner noch das Bundeswahlgesetz entspricht bis heute den grundgesetzlichen Anforderungen eines gültigen Gesetzes, denn jedes Gesetz, dass Grudrechtseinschränkungen zulässt, muss diese Grundrechte gemäß Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG namentlich unter Angabe des Artikels nennen, ansonsten ist das Gesetz von Anfang an nichtig, also gar nicht vorhanden mit der zwingenden Folge, dass alle auf einem nichtigen Gesetz basierenden Akte ebenfalls nichtig sind, egal wie man darüber denken mag, ansonsten brächte es die Gültigkeitsvorschrift des Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG nämlich nicht. Es wurden als bereits im Vorfeld unheilbare Fehler gemacht in Berlin also auch im Bund aber davon will niemand etwas wissen, stünde doch dann alles in Frage in diesem unserem Lande.

  5. 151.

    "Eine neue Möglichkeit, die das Internet eröffnet, wären aber häufige Volksabstimmungen über alle wichtigen Themen."
    Aber Volksabstimmungen wie in der Schweiz sind in Deutschland von der Politik leider nicht gewollt, warum wohl nicht?

  6. 150.

    @Lorenzo
    Selbstverständlich fliegen dieLinken aus dem Bundestag. Deshalb sind sie auch so still. Da wird nur noch gezittert, wenn man auf die Ergebnisse in den Ostbezirken schaut. Die CDU reibt sich die Hände,wenn sie die Umfragen sieht.

  7. 149.

    Ich habe bereits auf Ihr Posting geantwortet, kann diese Antwort hier aber bislang nicht finden.
    Tut mir leid. Nicht meine Schuld (wie ich glaube).

  8. 148.

    Stimmt. Seit über 20 Jahren stellt die SPD den Bürgermeister. (Seit wann die Grünen im Senat festkleben, mag ich zugegebenermaßen nicht recherchieren.)
    Ein riesen Unterschied, hm?
    Vermutlich hat keine Stadt in Deutschland so wenig die Landesregierung, die sie verdient.

  9. 147.

    Staatssekretäre sind politische Beamte und können jederzeit ohne Angaben von Gründen entlassen werden. Erst informieren, dann polemisieren.

  10. 146.

    "Ich bin übrigens kein AfD-Sympathisant, aber es kotzt mich an, was hier an pauschaler Verurteilung statt findet. "

    Neeeein, natürlich nicht. Deswegen ja auch ständig rechtsextreme Narrative. Es gibt ja auch noch eine NPD. Aber ich finde es äußerst interessant was hier heute durchgewunken wird. Jede Wette, meine Antworten werden dafür zensiert.

  11. 145.

    "Voraussichtlich sobald die Hölle zufriert und sich auch Realisten die Namen Godot und Katelbach in den Terminkalender schreiben."

    RRG ist gerade mal 7 Jahre im Amt; davor regierte ne GroKo.

  12. 144.

    @ franklin, die Wahl in Berlin war insgesamt ein Desaster und an Peinlichkeit kaum zu überbieten. Aber ich sehe hier eine Pannen-Wahl sondersgleichen die in Teilen oder besser noch komplett wiederholt werden muss. Wenn Sie aber von Wahlbetrug reden, dann sollten Sie besser mal nach Russland oder Weißrussland schauen.

  13. 143.

    Ich hoffe nur das dann alle Wähler verstanden haben das RGR eine Gefahr und eine "Schande" sind für die Stadt und es endlich die Konsequente Antwort darauf gibt.

  14. 142.

    "Frohlocken der Rechtsextremen"
    Es ist doch nicht "rechts" oder gar "rechtsextrem", die Grundsätze freier, gleicher und geheimer Wahlen einzufordern.

    "Totengräber unserer Demokratie"
    Totengräber der Demokratie ist, wer Wahldurchführungen verschludert, aber nicht wer das feststellt. Im Gegenteil, durch eine Nichtig-Erklärung einer falsch durchgeführten Wahl würden demokratische Verhältnisse ja erst wieder hergestellt.

  15. 141.

    Ich BIN AfD-Sympathisant und finde es erfrischend, dass Postings wie das Ihre aufzeigen, dass es noch Menschen gibt, die differenzieren können und nicht ständig in extremistisches "Wer nicht für uns ist, ist gegen uns!"-Gegeifer verfallen, das meiner Meinung nach nur auf Intoleranz, Schubladendenken, Fanatismus und Diskussionsunfähigkeit hinweist.
    Danke dafür.

  16. 140.

    In Berlin?
    Voraussichtlich sobald die Hölle zufriert und sich auch Realisten die Namen Godot und Katelbach in den Terminkalender schreiben.

  17. 139.

    Gute Idee.
    Sicher wäre schon so manche Fehlentscheidung zu verhindern gewesen, wenn man den Souverän auch mal nach seiner Meinung gefragt hätte.
    Allerdings sehe ich da realistisch betrachtet wenig Chancen:
    Glauben Sie, die seinerzeit (mehr oder weniger) verantwortlichen Politiker hätten sich die Abschaffung der D-Mark vom Brot nehmen lassen oder die heute (völlig un)verantwortlichen würden den Rundfunkbeitrag in die Tonne treten, weil die Bevölkerung das möchte?

    Aber mitunter müssen auch unpopuläre Maßnahmen durchgesetzt werden, weil es die Vernunft verlangt.
    Und bei zu vielen Volksabstimmungen sehe ich die Gefahr, dass nur noch beschlossen wird, was auch populär genug ist.
    (Übrigens bin ich auch ein strikter Gegner von Meinungsumfragen; sie zeigen Politikern nur auf, womit sie sich gerade beliebt machen können - ein eigener Standpunkt wird damit zum Luxus)

  18. 138.

    Wenn freiwillige Wahlhelfer grundsätzlich ein Problem wären, wären Wahlen schon immer schiefgelaufen. Das kann also nicht der Kern des Problems sein. Außerdem gibt es für die freiwilligen Helfer einen wichtigen Grund: Nämlich dass das Volk selbst die Wahl durchführt und beaufsichtigt.

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