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Video: Abendschau | 29.01.2021 | I. Marx/B. Hermel | Quelle: dpa/F. Sommer

Debatte über Impfstoffproduktion in Berlin

Wie ein Signal der Hoffnung zum Kommunikationsdesaster wurde

Mit einer guten Nachricht wollte Gesundheitssenatorin Kalayci die Pandemiestimmung aufhellen - und nebenbei ein paar politische Punkte einsammeln: Berlin steige in die Impfstoffproduktion ein. Doch das stellte sich als falsch heraus. Wie es dazu kommen konnte. Von Sebastian Schöbel

Wohl nur in Berlin führt eine vermeintlich gute Nachricht am Ende zu maximaler Frustration auf allen Seiten. So geschehen bei der erhofften Impfstoffproduktion in der Hauptstadt: Die war am Donnerstagvormittag von Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci (SPD) noch als Silberstreif am Pandemiehorizont verkündet worden - nur um dann wenige Stunden später auf peinliche Weise als unrealistisches Wunschdenken entlarvt zu werden. Nun wird wieder viel Häme ausgekübelt: Von "Verheerung" und "Desaster" ist die Rede.

Vor allem Kalayci steht im Kreuzfeuer der Kritik, im Netz werden Rücktrittsforderungen laut, während der rot-rot-grüne Senat als Dilettanten-Stadl dasteht – nicht zum ersten Mal. "Es scheint, dass auf der Suche nach einem kurzfristigen PR-Erfolg bei Rot-Rot-Grün der gesunde Menschenverstand in den Hintergrund getreten ist", ätzte der CDU-Spitzenkandidat Kai Wegner. "Im Ergebnis hat Rot-Rot-Grün Berlin bis auf die Knochen blamiert."

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Konkrete Gespräche zwischen Kalayci und Berlin-Chemie

Wer sich mit den Hintergründen beschäftigt, erhält allerdings ein etwas differenzierteres Bild: von Politikern im Krisenmodus, die händeringend nach optimistischen Nachrichten suchen, von Unternehmen, die zwischen Versprechen, Profit und Risiko operieren, von politischen Machtspielchen und Geltungsdrang, von informationshungrigen Medien mit Hang zur Dramatisierung.

Tatsächlich hatte Kalayci die mögliche Impfstoffproduktion in Adlershof nicht einfach erfunden: Wie der rbb aus gut informierten Kreisen erfuhr, liefen die Gespräche zwischen ihr und Berlin Chemie schon etwas länger und waren durchaus konkret. Mehrere Quellen nannten auf rbb-Nachfrage einen Zeitraum von sieben bis acht Monaten, die für den Aufbau einer Produktion benötigt würden – sofern man eine Lizenz von einem der ursprünglichen Hersteller ergattern könnte und den Pharmafirmen wirtschaftliche Sicherheiten garantiert würden.

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Spahn beim Thema Impfstoffproduktion zurückhaltend

Offenbar wollte die SPD-Politikerin Kalayci vor dem anstehenden Impfgipfel mit Bundesgesundheitsminister Jens Spahn von der CDU eine Debatte über die Impfstoffproduktion anstoßen, heißt es von ihren politischen Unterstützern. Da die wenigen Hersteller von genehmigten Impfstoffen ihre Lieferzusagen nicht einhalten können, wird schon länger über die Vergabe von Produktionslizenzen an Dritte gesprochen. Vor allem die CDU aber ist bei diesem Thema noch zurückhaltend. "Auch ein Impfgipfel wird es nicht schaffen, dass etwas so Komplexes wie Impfstoffproduktion auf einmal in zwei Wochen zu Hunderten oder zig Millionen stattfindet", so Spahn.

Zumal die ökonomische Seite der Impf-Debatte sehr schnell sehr grundsätzlich werden kann, wie der Gesundheitsexperte der Linken, Wolfgang Albers, im Parlament deutlich machte. "Eine Schmierenkomödie" sei der Streit mit den Pharmafirmen um die Impfstoffproduktion. "Wittert Kapital Profit, wird es kühn, und ist der Profit hoch genug, gibt es auch keine Schamgrenze." Dabei gebe das Impfen in der Pandemie Hoffnung, so Albers, "und für die haben die Menschen schon viel Geld bezahlt".

Berlin Chemie ist keine kleine Pharmaklitsche am Stadtrand Berlins: mit Standorten in 25 Ländern, 5.000 Mitarbeitern, 1,5 Milliarden Euro Umsatz im Jahr und gut 130 Jahren Erfahrung in der Arzneimittelherstellung. Seit 1992 gehört das in Berlin gegründete Unternehmen zum italienischen Pharmakonzern Menarini mit Hauptsitz in Florenz.

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Parteikollege Müller gehört zu den Skeptikern

Dass Kalayci im Parlament die frohe Kunde über gute Gespräche mit Berlin Chemie verkünden werde, war nach rbb-Informationen mit der SPD-Fraktion und dem Regierenden Bürgermeister Michael Müller abgesprochen – wobei die Darstellungen auseinandergehen, wie viel sie hätte verraten sollen.

Ganz nah dran war offenbar Fraktionschef Raed Saleh, der mit einer überglücklichen Pressemitteilung um 12:45 Uhr zu den ersten Gratulanten gehörte. Das sei "ein großer Schritt in die richtige Richtung", so Saleh. Er "danke der Gesundheitsverwaltung für ihr Engagement" und appellierte "an alle Verantwortlichen, dass die Entstehung weiterer Produktionsstätten für den Impfstoff mit allen Mitteln unterstützt wird".

Saleh-Unterstützer Torsten Schneider, parlamentarischer Geschäftsführer der SPD, schrieb fast zeitgleich auf Facebook von einem großen Erfolg für Kalayci und die Stadt. "Das wird die bundes- und weltweite Debatte auch auf dem von der SPD geforderten Impfgipfel verschieben, weg von der versagenden Schuldzuweisungsdebatte der CDU, weg von der hilflosen Apfelkuchendebatte der Grünen."

Ein Seitenhieb auf Wirtschaftssenatorin Ramona Pop von den Grünen: Die hatte jüngst SPD und Linken vorgeworfen, die Debatte über die Impfstofflizenzen für den Wahlkampf zu nutzen. "Das ist kein Apfelkuchenrezept, das man einfach weitergeben kann", so Pop.

Salehs Parteifreund Müller schickte kein Gratulationsschreiben aus dem Roten Rathaus – wohl auch, weil er nach rbb-Informationen nicht besonders eng in die Gespräche eingebunden wurde. Müller gilt beim Thema Impfstoffproduktion als Skeptiker: Anfang Januar hatte er im Wissenschaftsausschuss des Abgeordnetenhauses erklärt, eine solche Produktion ließe sich in Berlin auf keinen Fall schnell realisieren. "Wir wären nicht schneller mit der Impfstoffversorgung", sagte Müller.

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Berlin Chemie überrumpelt

Zumindest Kalayci sah das wohl anders, zudem hatte sie explizit den Auftrag vom Parlament bekommen, nach Möglichkeiten zur Verbesserung der Impfstoffversorgung zu suchen. Dass sie durchaus Interesse hatte, auch persönlich mit einem Erfolg in Verbindung gebracht zu werden, ließ sie am Donnerstag klar durchblicken: "Ich und meine Behörde sind in guten Gesprächen mit Berlin Chemie", betonte Kalayci. Ein nicht ganz uneigennütziger Hinweis.

Doch schon unmittelbar nach der Bekanntgabe wuchsen laut rbb-Informationen im Senat die Zweifel. Berlin Chemie jedenfalls war völlig überrumpelt. Irgendwann im Laufe des Tages kam das Veto des italienischen Mutterkonzerns. Als Müller schließlich den Deutschland-Chef von Menarini, Reinhard Uppenkamp, ans Telefon bekam, hieß es nur knapp: Keine Produktion möglich, dafür aber die Abfüllung von Impfstoff. Am späten Abend folgte eine sehr kurze Pressemitteilung des Unternehmens. "Die Technologie, über die das Unternehmen verfügt, ist für die Produktion von Impfstoffen nicht geeignet."

Mutterkonzern spricht von Missverständnis

Gemeint war aber nicht nur die Impfstoffherstellung. Sondern alles: Keine Herstellung, keine Produktion. Hektisch korrigierte der Konzern am Tag darauf seine Pressemitteilung: "Die Technologie, über die das Unternehmen verfügt, ist für die Produktion und Abfüllung von Impfstoffen nicht geeignet."

Das Ganze sei ein Missverständnis, hieß es etwas zerknirscht aus Konzernkreisen. Berlin Chemie habe früher eine Abteilung gehabt, die dafür hätte genutzt werden können. Deswegen stand das Unternehmen zum Beispiel 2016 auf der Liste mit Firmen, die Vogelgrippeimpfstoff abfüllen können. Doch das tat Berlin Chemie dann nie – und die Abfüllabteilung wurde 2019 geschlossen. "Wir haben nie eine Zusage gegeben", so eine Unternehmenssprecherin.

Gespräche über eine konkrete Planung für eine Impfstoffproduktion in Berlin habe der Mutterkonzern ebenfalls nicht gekannt.

Sendung: Inforadio, 29.01.2021, 13:28 Uhr

Beitrag von Sebastian Schöbel

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