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Quelle: imago images/Rainer Weisflog

Kommentar | Bundestag beschließt Kohleausstieg

Nicht ausgeschlossen

Bis 2038 will sich Deutschland von der Kohle verabschieden - das ist jetzt beschlossene Sache. Auch die Lausitz in Brandenburg muss komplett umdenken. Zwar wird der Strukturwandel mit Milliarden versüßt, doch was das bringt, ist unklar. Von Andreas Rausch

Das Herz möchte einem beim Anschauen zerfließen. Ein ratloser Mann, kaum 45 Jahre alt, sitzt gebrochen in seinem Wohnzimmer: "Früher hieß es immer stolz, ich bin Bergmann, wer ist mehr? Und heute? Da zählt das alles nichts mehr. Da herrscht Hoffnungslosigkeit." Die Szene ist mehr als 20 Jahre alt, sie gehört zu einem Film aus rbb-Beständen über das Ende des Tagebaus Meuro bei Senftenberg. Den letzten in diesem Revier.

Viele der Kumpel dort gingen über einen ABM-Puffer direkt in die Arbeitslosigkeit. Perspektive hatte zu diesem Zeitpunkt kaum jemand: Der Markt wird bereinigt, die Menschen spielen, so scheint es, in diesem Nachwendeprozess keine Rolle. Nahezu jede Familie ist betroffen. Trostlos scheint die Zukunft im Revier. Nährboden für Filme, Melancholie, Populismus.

Und heute?

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Viele Prophezeiungen

Heute gehen wieder Gespenster um. Die einen prophezeien einen zweiten Strukturbruch, den Todesstoß für die Industrieregion Lausitz. Der Abschied von einer funktionierenden Industrie werde eine neue Abwanderungswelle in Gang setzen. Während hier Kohlemeiler vom Netz gingen, bauten allein die Chinesen ein Vielfaches davon neu - das Klima habe also nichts von diesem Opfer.

Im Gegenteil, wir setzten mit dem Kohleausstieg den deutschen Wohlstand aufs Spiel, heißt es. Die ohnehin hohen Strompreise würden bald explodieren, Blackouts drohten. Und den Abschied versüße der Steuerzahler den Kohleunternehmen von RWE bis Leag noch mit zu vielen Milliarden Euro. Nicht ausgeschlossen.

Der Abschied von der Kohle sei zu zaghaft, am Ende habe sich die Lobby weitgehend durchgesetzt, es müsse viel früher und viel rabiater ausgestiegen werden, um die Welt noch retten zu können, so die Forderung.

Hintergrund

Fragen und Antworten

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Nichts ist ausgeschlossen

In allen Befürchtungen und Prophezeiungen stecken reale Gefahren. Vielleicht kommt der Ausstieg marktbedingt früher als 2038. Nicht ausgeschlossen.

Vielleicht ist die Leag überbezahlt dafür, dass sie nicht gegen die Kündigung ihrer Geschäftsgrundlage klagen wird. Nicht ausgeschlossen.

Vielleicht wird die Vorreiterrolle Deutschlands - das als einzige Industrienation praktisch parallel aus Atom- und Kohleenergie aussteigt, immerhin fast aus der Hälfte des aktuellen Strommix‘ - nicht zum Vorbild für andere, wie erhofft und damit auch für das Klima wenig nutzbringend. Nicht ausgeschlossen.

Und vielleicht sind auch die 40 Milliarden Euro, mit denen der Bund drohende Perspektivlosigkeit in den Revieren verhindern will, am Ende nicht das Allheilmittel. Auch das - nicht ausgeschlossen.

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Kohleausstieg ist real und notwendig

Fakt ist: Der Kohleausstieg ist real und notwendig.

Fakt ist: Die Gefahr um die Versorgungssicherheit existiert so lange, wie es keine industriell nutzbaren Stromspeicher oder einen zügigen Ausbau von Gaskraftwerken gibt.

Fakt ist: Wenn sich Europa und die Welt nicht ebenso aus der fossilen Energiegewinnung verabschieden, bringt der deutsche Kohleausstieg dem Klima nichts.

Und Fakt ist, ohne einen sinnvollen Plan, Macher mit Ideen und Visionen vor Ort und einer klugen Ansiedlungspolitik bringen auch die versprochenen 40 Milliarden Euro allenfalls Schmerzlinderung, aber keinen Strukturwandel in die Regionen.

Der Tagebau Meuro aus dem eingangs angesprochenen Film heißt jetzt Großräschener See. Es gibt einen Hafen, ein Strand entsteht, es herrscht mehr Zu- als Abwanderung, Touristen kommen, es gibt Arbeit in Tourismus und Industrie. Die Stadt, die dem See den Namen gab, gilt heute als kleines Lausitzer Wunder, das graue Dreckloch von einst ist nicht mehr wiederzuerkennen.

Die Region hat sich vor 20 Jahren ohne Kohle neu erfinden müssen – dass das ohne einen guten Plan, Unterstützung und Macher vor Ort gegangen wäre? Ausgeschlossen. Das ist Fakt.

Sendung: Brandenburg aktuell, 03.07.2020, 19:30 Uhr

Beitrag von Andreas Rausch

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