Premierenkritik | Mothers – A Song for Wartime am Maxim Gorki Theater - "Tut uns leid, dass der Osten so weit weg ist!"
In "Mothers – A Song for Wartime" bringt die polnische Regisseurin Marta Górnicka 21 aus der Ukraine und aus Belarus geflüchtete Frauen und Kinder auf der Bühne. Gemeinsam geben sie ihrem Protest gegen den Krieg in der Ukraine eine Stimme. Vielleicht braucht es genau das in diesem Kriegsherbst. Von Barbara Behrendt.
Wenn die Vögel im Frühjahr zurückkehren, wenn das Leben erwacht, erzählt uns das kleine Mädchen mit den Zöpfen auf der Bühne, dann gehen die Frauen und die Kinder in der Ukraine von Haus zu Haus und singen eine sogenannte "Shchedrivka". Ein Lied für das Glück und die Gesundheit aller Menschen: der Armen, der Alten – und der Söhne, die im Krieg kämpfen. Und obwohl es Herbst ist, wird auch dem Publikum eine Shchedrivka gesungen: "Den guten Menschen zum Wohle", heißt es darin immer wieder.
Aufrecht, mit überbordender Kraft marschiert diese Kämpferinnen-Truppe auf, schwingt die Trommel-Schlegel und singt aus vollem Herzen. Vorn das Mädchen, dahinter erwachsene Frauen jeden Alters, mit ungeheuer schönen, lebendigen Gesichtern. Alle dezent in Blau, hier und da blitzt ein Strumpf in Ukraine-Gelb. Das Lied wirkt wie eine Warnung an die weniger „guten“ Menschen auf dieser Welt, denen die Frauen sich entgegenstellen.
Auf Polnisch, Ukrainisch, Belarussisch
Die polnische Regisseurin Górnicka ist bekannt für ihre chorischen Inszenierungen mit Profis und Laien – und immer bringt sie darin die aktuellen gesellschaftlichen Probleme und Debatten auf die Bühne, ähnlich, wie das im antiken Chor der Fall war. Sie hat bereits das Grundgesetz chorisch performt. Sie hat aber auch schon in Israel palästinensische und israelische Frauen und Kinder mit israelischen Soldaten gemeinsam auftreten lassen. In ihrer neuen Inszenierung am Maxim Gorki Theater beschäftigt sie sich nun mit einer der großen Krisen unserer Gegenwart: dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine. In "Mothers – A Song for Wartime" (also: "Mütter – ein Lied für die Kriegszeit") wird auf Polnisch, Ukrainisch und Belarussisch gesungen, die Übertitel liest man auf Deutsch und Englisch mit.
Von der anfänglichen Feier des Lebens senkt sich der Abend zu den Schrecken des Krieges herab. Zunächst mit einem unheilschwangeren ukrainischen Volkslied, in dem die Mutter wie ein Kuckuck geflogen kommt, um ihre Tochter zu retten. Bis später die ultimative Kriegswaffe am Pranger steht, das Folter-Mittel, das bis in die Ewigkeit wirkt: Vergewaltigung. Denn danach, so rufen die Frauen im Chor, endet der Krieg nie wieder im Körper. Und auch in die nächste Generation schreibt sich das Trauma ein.
Marta Górnicka dirigiert aus dem Zuschauerraum
Immer wieder formieren sich die Frauen neu, im Halbkreis oder in einer Diagonalen quer über die Bühne – so akkurat wie eine weibliche Armee des Protests. Und aus Reihe 8 im Zuschauerraum dirigiert Marta Górnicka ihren Chor, sodass auch das Sprechen höchst präzise wirkt.
Nach der Hälfte findet der 60-minütige Abend dann zu seiner Hauptaussage: der Anklage der westlichen Welt. Vermischt mit einem Schlaflied für Europa erklingt die ätzende Kritik als Stimme der privilegierten Westler selbst: "Wir möchten nicht bombardiert werden", persiflieren die Frauen, "das ist nicht sehr nett! Wir hatten das für die nächsten Jahre nicht geplant. Europa hatte schon ein Kriegstrauma. Tut uns leid, dass der Osten so weit weg ist!"
"Wie lange seht ihr hin?"
Und dann sprechen sie aus, was ohnehin unübersehbar ist: "Wir", sagen sie, "sind die Protagonistinnen dieses Kriegs. Die Rolle derjenigen, die ihre Kinder zum Schlachten schickt, ist uns zu banal." Die Geschichte, soll das heißen, wird in diesem Krieg nicht irgendwann von Siegern erzählt – sondern hier und heute von den Frauen geschrieben. Und die fordern unsere Menschlichkeit ein: Wie lange seht ihr hin, bevor ihr aufs nächste Katzenvideo klickt, rufen sie. Eine Frage, die sich nicht nur für die Ukraine stellt, sondern auch mit Blick auf Israel, Gaza und den Nahen Osten. Was tun wir, was tut die internationale Gemeinschaft, um die Kriege dieser Welt zu beenden?
Ohne Wenn und Aber gegen den Krieg
Es ist ein Abend ohne Zwischentöne, ohne Widerhaken, gegen den kein vernünftiger Mensch etwas einwenden kann. Ästhetisch und inhaltlich ist das wenig herausfordernd – doch vielleicht braucht es in diesem im wahrsten Sinne "grauenvollen" Herbst 2023 eine solche Inszenierung, bei der man sich ohne Wenn und Aber gegen den Krieg verbunden fühlen kann. Vom Publikum wird der Abend, werden die eindrucksvollen Frauen mit Standing Ovations gefeiert.
"Never again" heißt es am Ende. Zuletzt echot nur das "again" endlos nach. Als Warnung. Oder als Beschreibung der Realität.
Sendung: rbb24 Inforadio, 04.11.2023, 6:55 Uhr