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Audio: rbb|24 | 13.09.2022 | Interview mit Clemens Walther | Quelle: imago/Steinach

Interview | Lage am AKW Saporischschja

Nuklearexperte hält zweites Tschernobyl für "höchst unwahrscheinlich"

Im Krieg Russlands gegen die Ukraine ist erstmals auch ein Atomkraftwerk in militärisch umgekämpftes Gebiet geraten. Die Sorge vor einem Austritt von Radioaktivität ist groß - auch in Berlin und Brandenburg.

rbb|24: Herr Walther, was könnte in Saporischschja passieren, so dass nukleare Strahlung austreten könnte? Gibt es da nur eines oder gleich mehrere Szenarien?

Clemens Walther: Ich unterscheide in vier Szenarien. Fangen wir mit dem niedrigstmöglichen an: Es gibt außerhalb des Kraftwerks Lagerbehälter für abgebrannte Brennelemente. In Deutschland kennt man die Castoren, in denen die Brennelemente gelagert und transportiert werden. Sowas gibt es dort auch – nur in etwas anderer Ausführung und nicht ganz in der deutschen Stabilität. Aber eben doch recht gut. Dort könnte, weil das keinen größeren Gebäudeschutz hat, weil es nicht in einem echten Bunker steht, eine Granate oder was auch immer einschlagen und so zu einer Freisetzung führen.

Da würde die Beton- oder Stahlabschirmung durchschlagen. Das kann man sich so vorstellen, als hätte man ein Stück Metall, das einer Explosion ausgesetzt ist. Das heißt, Splitter würden das radioaktive Material sicherlich in einige dutzend oder hundert Meter verteilen. Aber es gäbe keine Reichweiten von Hunderten von Kilometern.

Zur Person

Clemens Walther

Bei Eskalationsstufe zwei wäre ein Brennelement-Lagerbecken betroffen von einem Vorfall. Dort sind Brennelemente, die noch relativ frisch sind und die also noch Radioaktivität enthalten. Die entwickeln Wärme. Sie sind in einem Wasserbecken, das durchgehend gekühlt werden muss. Passiert das nicht, kann das Wasser verdunsten oder verdampfen. Dann könnten die Brennelemente strukturell Schaden nehmen – also theoretisch schmelzen oder zumindest könnten die Hüllrohre so beschädigt werden, dass Radioaktivität austritt.

Die Brennelement-Lagerbecken könnten durch Einflüsse von außen, wie militärische Einflüsse oder dem Ausfall der Kühlung, betroffen werden. Die Zeitdauer, in der so etwas abläuft, wären aber Tage bis eher Wochen. Ein Schaden hätte nicht sofort eine Freisetzung zur Folge.

Eskalationsstufe drei wäre, dass die Reaktoren selbst nicht mehr gekühlt werden. Momentan sind alle sechs Reaktoren abgeschaltet. Es ist also kein Reaktor mehr im laufenden Betrieb, und das ist ein Sicherheitsgewinn. Ein Reaktor besteht ja aus einem großen Druckgefäß. Dort ist Wasser unter hohem Druck und unter hoher Temperatur vorhanden. Wenn der jetzt zerstört würde, könnte dort Radioaktivität austreten. Jetzt haben alle sechs Reaktoren aber schon einen niedrigeren Druck und eine niedrigere Temperatur.

Hier könnten zwei Arten der Beschädigung auftreten. Es verhält sich ähnlich wie mit dem Brennelement-Becken, wenn keine Kühlung mehr gewährleistet ist. Ein Reaktor hat direkt nach dem Abschalten noch sechs Prozent der Wärmeleistung, die von den Brennelementen ausgeht. Das wären im Fall der WWER-1000-Reaktoren noch ungefähr 180 Megawatt. Wenn man diese Wärme nicht abführen kann, dann wird das immer heißer. Wenn also Stromversorgung nicht mehr da ist, muss man den Strom für die Kühlmittelpumpen woanders herkriegen. Also durch Notstromaggregate oder Notstrom von außen. Fällt beides aus, könnten die Reaktoren - auch wenn sie abgeschaltet sind - überhitzen. Dann könnte es zur Schädigung der Brennelemente bis hin zur Kernschmelze kommen.

Wem da jetzt Tschernobyl und die Ausbreitung bis Deutschland einfällt, der geht einen Schritt zu weit. Denn eine Kernschmelze bedeutet bei modernen Reaktoren noch nicht, dass unbedingt eine Austragung von Radioaktivität stattfindet. Der Sicherheitsstandard des ukrainischen Kraftwerks ist in etwa vergleichbar mit denen europäischer Druckwasserreaktoren.

Eskalationsstufe vier wäre ein direkter Treffer und die Beschädigung aller Hüllen des Reaktors. Man muss sich den wie eine Zwiebel vorstellen. Wer den Reaktor beschädigen will, müsste alle Hüllen gleichzeitig durchschlagen. Streifschüsse oder einzelne Granaten würden diese Hüllen aber sicherlich aushalten. Dieses Szenario, bei dem Radioaktivität quasi unterm freien Himmel wäre, ist höchst unwahrscheinlich. Zusätzlich sind ja die Reaktoren nicht in Betrieb. Das ist also kein Dampfdrucktopf mehr, sondern eher ein Topf Nudelwasser, das noch auf dem Herd steht, aber nicht mehr kocht. Der Vergleich hinkt zwar etwas, aber dass die Reaktoren nicht mehr laufen, ist ein Sicherheitsgewinn.

Außerdem muss man sich ja fragen, wer überhaupt ein Interesse daran haben könnte. Wer sollte darin einen Vorteil sehen, den Reaktor gezielt zu zerstören?

Saporischschja liegt etwa 1.800 Kilometer Luftlinie von Berlin entfernt. Ist es realistisch, dass Radioaktivität hier ankommt?

Bei Szenario vier schon. Dann könnte Ausbreitung in sehr großen Mengen in weiten Bereichen erfolgen. Auch bis Deutschland. Das wäre denkbar. Aber derjenige, der das gezielt anstrebt, würde seine eigenen Truppen doch zuallererst in Gefahr bringen. Außerdem wollen ja beide Parteien diese Reaktoren für unterschiedliche Zwecke und unterschiedliche Gebiete der Stromversorgung nutzen.

Lage am AKW Saporischschja

Wovon würde es abhängen, ob und wieviel Radioaktivität hier ankommt?

Das wäre im schlimmsten Fall, wenn der Wind aus Osten – also in unsere Richtung – bläst, wieder eine maximale Größenordnung wie wir sie bei Tschernobyl hatten. Das wäre wirklich der Worst Case. Aber diese Windrichtung gibt es nur in 15 Prozent der Tage im Jahr. An 85 Prozent weht der Wind aus anderen Richtungen. Dazu kommt, es muss dann noch relativ viel flüchtige Radioaktivität mit kurzlebigen Radionukliden ankommen. Davon sind viele jetzt schon abgeklungen, weil die Anlagen nicht mehr in Betrieb sind.

Es käme in Deutschland mit Sicherheit nicht zu einer Situation, in der wir Jodtabletten einnehmen müssten oder große Gefahr für Leib und Leben durch direkte Strahlung bestünde. Es wäre denkbar, dass wieder Lebensmittel kontaminiert werden. Man wieder erhöhte Radioaktivität in Pilzen oder Wildschweinen und ähnlichem hätten. Das wären die maximal denkbaren Auswirkungen, die wir in Deutschland zu befürchten hätten. Aber das auch nur im schlimmsten Szenario und auch nur, wenn die Reaktoren wieder angeschaltet würden.

Wie lange würde die Radioaktivität in dem Fall brauchen, um von der Ukraine bis zu uns zu kommen. Reden wir da von Minuten, Stunden oder Tagen?

Da reden wir von Tagen.

Wer würde uns überhaupt Bescheid sagen, wenn in der Ukraine Radioaktivität austritt? Da ist ja Krieg – misst da noch jemand zuverlässig?

Ja, und nicht nur das. Es gibt sogar ein öffentlich zugängliches Messnetz. Die Ukraine hat ein Messnetz mit ungefähr 500 Stationen, das man live im Internet anschauen kann. Auch während der Kriegsmonate war das die meiste Zeit online. Und sollte dort wirklich eine Freisetzung erfolgen, die bis nach Deutschland kommt, dann haben wir hier auch ein sehr gutes Messnetz. Da würden wir sofort sehen, wenn größere Mengen ankämen. Aber die erste Frühwarnstufe wäre das ukrainische Messnetz.

Vielen Dank für das Gespräch.

 

Das Interview führte Sabine Priess, rbb|24

Sendung: rbb PRAXIS, 14.09.2022, 20:15 Uhr

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