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Audio: rbb Inforadio | 18.10.2022 | Ulf Morling | Quelle: Ulf Morling/rbb

Prozess gegen Berliner Klimaaktivisten

"Sie haben sich absolut antidemokratisch verhalten"

Ein Klimaaktivist blockiert im Februar mit Gleichgesinnten die A 100. Das Amtsgericht Tiergarten verurteilt den Studenten zu 600 Euro Geldstrafe wegen Nötigung. Doch es gibt auch Richter, die eine Bestrafung bei Straßenblockaden ablehnen. Von Ulf Morling

Für den Freitagmorgen, den 4. Februar 2022, hatte die "Letzte Generation" für Berlin Autobahnblockaden angekündigt und durchgeführt. Medizinstudent Johann O. (21) war einer der zwölf Demonstranten, die sich um 7.51 Uhr auf die Moabiter Ausfahrt der A100 Beusselstraße setzte. Nur zwei von ihnen klebten sich fest, damit "immer Rettungsfahrzeuge durchkommen können", so der Angeklagte in seiner Erklärung vor dem Amtsgericht Tiergarten heute. In anderthalb Stunden war ein beträchtlicher Stau entstanden und O. habe diesen durch seine Sitzblockade mit verursacht.

Er habe sich "absolut antidemokratisch verhalten", sagte der Richter der Abteilung 424 des Amtsgerichts Tiergarten, denn auf der einen Seite habe sein grundgesetzlich geschütztes Interesse gestanden, für den Klimaschutz zu demonstrieren. Auf der anderen Seite aber habe das Grundrecht der Autofahrer:innen gestanden, sich weiter fortzubewegen. "Die waren fast gefangen!", sagt der Richter im Urteil. Er verurteilt den geständigen 21-jährigen, der in Berlin Medizin studiert, wegen Nötigung der Autofahrer:innen im Stau zu einer Geldstrafe von 30 Tagessätzen á 20 Euro. "Ich nehme ihr Anliegen ernst, aber ich missbillige ihre Mittel", sagt der Vorsitzende in der Urteilsbegründung.

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Welches Grundrecht ist gewichtiger?

Zu Prozessbeginn hatte sich der 21-jährige angeklagte Student versucht zu erklären: es mache keinen Spaß, von Autofahrer:innen beschimpft zu werden, weil sie nicht weiterkommen. Es mache auch keinen Spaß, heute vor Gericht zu stehen, aber "ich stehe zu meiner Tat, mich gegen die Klimakatastrophe aufzulehnen." Seit dem letzten Winter sei ihm jäh bewusst geworden, dass er sich dem todbringenden System entgegenstellen müsse. "Es sterben schon jetzt mehr Menschen durch Hitzewellen als durch Corona."

Sechs Polizisten wurden vom Gericht als Zeugen geladen. Sie berichten von jungen Demonstranten, die eigentlich friedlich waren. Das einzige Problem sei es gewesen, zwei der Demonstranten wegzutragen, deren Handflächen durch Sekundenkleber mit dem Asphalt verbunden waren. "Im Februar wurden auch Menschen vom Asphalt gerissen. Ich möchte mich bei Ihnen bedanken für ihr maßvolles Vorgehen", sagt der Angeklagte zum damaligen Einsatzleiter der Polizei. Anderthalb Stunden habe die Demonstration gedauert. Die insgesamt zwölf jungen Leute hätten nicht akzeptiert, ihren "Aufzug" auf dem Gehweg fortzusetzen. Auch die Beendigung der nicht angemeldeten Demonstration hätten sie nicht akzeptieren wollen, und man habe sie wegtragen müssen.

Der Vorsitzende Richter versuchte in seinem Urteil transparent zu machen, warum er trotz des hehren Zieles des Klimaschutzes den angeklagten Studenten verurteilen müsse. Da sei sein Grundrecht auf Demonstration, andererseits habe die Gruppe der Letzten Generation "sämtlichen Berufsverkehr in dieser Zeit beeinträchtigt und damit die Bewegungsfreiheit der Autofahrer:innen." Das sei verwerflich und damit eine Nötigung.

Straffreiheit für Autobahnblockierer?

Am 5. Oktober dieses Jahres hatte ein anderer Richter des Amtsgerichts Tiergarten das gegenteilig gesehen: Er hatte den Erlass eines Strafbefehls gegen eine andere Aktivistin der Letzten Generation wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte und Nötigung abgelehnt. Die Beschuldigte hatte lt. Staatsanwaltschaft am 22. Juni 2022 mit 66 anderen in Friedrichshain eine Kreuzung dreieinhalb Stunden lang blockiert, auch indem sie sich am Asphalt festklebte.

Mit dem Heben der Hand der Demonstrantin zum Auftragen des Lösungsmittels für den Sekundenkleber sei zum einen die "dienstliche Vollstreckungshandlung nicht unerheblich erschwert worden", sodass keine Widerstandshandlung gesehen werden könne. Zum anderen aber sei der Vorwurf, die Autofahrer:innen im Stau genötigt zu haben, nicht aus den Akten zu schlussfolgern. "Jede politische Demonstration (ist) lästig, aber für den demokratischen Rechtsstaat unerlässlich", so der Richter des Amtsgerichts Tiergarten, der eine Bestrafung der Klimaaktivistin ablehnte, weil sie sich nicht strafbar gemacht habe.

Bei der Güterabwägung der Rechte der im Stau stehenden Autofahrer:innen und der Demonstrierenden sei die Aussage eines Zeugen besonders beeindruckend, der "einer Schulbeförderung nicht nachkommen konnte, nämlich eines 18 Jahre alten Schülers". Der Richter führt aus, dass man auch in diesem Fall den Demonstranten bzw. der Angeschuldigten vorwerfbare Beeinträchtigungen des Schülers nicht vorwerfen könne, da völlig ungeklärt sein, warum es dem Erwachsenen "nicht möglich gewesen sein sollte, auf anderem Wege noch pünktlich zu seiner Schule zu gelangen."

Der Richter argumentiert weiter, dass Klimawandel und ökologische Wende im politischen Handeln der Regierung "ein dringendes globales Thema ist, (das) wissenschaftlich nicht zu bestreiten (ist) und …regelmäßig in entsprechenden internationalen Klimakonferenzen betont und mit an Deutlichkeit kaum zu übertreffenden Worten vom UN-Generalsekretär bestätigt (wird)." Die legitime Ausübung des im Grundgesetz garantierten Demonstrationsrechtes überwiege gegenüber den "nur verhältnismäßig geringfügig eingeschränkten Grundrechtsbelangen der… Fahrzeugführer."

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Berufung oder Revision

In einer zweiten Instanz kann der am Dienstag verurteilte Johann O. zum zweiten Mal klären lassen, in der Prüfung auf mögliche Rechtsfehler oder in der Berufung vor dem Landgericht, ob er durch die Teilnahme an der Demonstration durch die Letzte Generation sich wegen der Nötigung der Autofahr:innen strafbar machte.

Der bislang einzige Richter des Amtsgerichtes Tiergarten, der die Bestrafung eines Klimaaktivisten wegen einer Straßenblockade ablehnte, hatte in seinem diesbezüglichen Beschluss ausgeführt, man müsse beim Klimaschutz sein Augenmerk lenken auf die "objektiv dringliche Lage bei gleichzeitig nur mäßigem politischen Fortschreiten unter Berücksichtigung namentlich der kommenden Generationen, wie dies auch durch das Bundesverfassungsgericht erst kürzlich angemahnt werden musste."

Am Mittwoch findet der nächste Prozess gegen eine Demonstrantin der Letzten Generation wegen einer Blockade der A 100 in Moabit Ende Januar statt. Sie ist wegen Nötigung der Autofahrer:innen angeklagt.

Sendung: rbb24 Inforadio, 18.10.2022, Ulf Morling

 

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Beitrag von Ulf Morling

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