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Quelle: dpa/Kay Nietfeld

Zugriff auf Patientendaten

45 Prozent weniger Todesfälle: Barmer schlägt neue Impfstrategie vor

Um Risikogrup­pen schneller zu impfen und damit schwere Verläufe und Todesfälle zu verhindern, schlägt die Krankenkasse Barmer ein Impfmodell vor, das auf Versichertendaten zugreifen kann. Impfexperten und Datenschutzbeauftragte zweifeln an der Umsetzung. Von Efthymis Angeloudis

Die Krankenkasse Barmer schlägt vor, Daten von Versicherten zu nutzen, um Menschen mit Vorerkrankungen schneller zu impfen. Auf diese Weise sollen schwere Verläufe von Covid-19 verhindert und die Intensivstationen entlastet werden. Deutschlands zweitgrößte Krankenkasse hofft, dass die Zahl der Sterbefälle dadurch deutlich gesenkt werden kann - und zwar um bis zu 45 Prozent.

Um so eine Regelung zu ermöglichen, müsste der Gesetzgeber erst eine entsprechende Rechtsordnung schaffen, sagte Uwe Repschläger, Leiter des Barmer Instituts für Gesundheitssystemforschung (Bifg), rbb|24. "Die Voraussetzungen dazu müssten aber erst geschaffen werden. Das heißt, es müsste den Krankenkassen erlaubt werden, die Daten der Versicherten entsprechend auszuwerten", sagte er.

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"Eine verlockende Idee", findet Martin Terhardt, Mitglied der Ständigen Impfkomission des RKI (Stiko). Allerdings setze das voraus, dass die Diagnose-Daten inklusive ihrer Einordnung in Schweregrade wirklich vollständig und korrekt seien. "Da habe ich doch leichte Zweifel", sagte Terhardt am Mittwoch rbb|24. Außerdem müssten alle Krankenkassen mittels gesetzlicher Grundlage dazu ermächtigt werden und privat Versicherte blieben außen vor.

Nach älteren Menschen und Beschäftigten im Gesundheitswesen sollen nach Empfehlung der Ständigen Impfkommission (Stiko) bei Impfungen gegen Covid-19 besonders Menschen aus sogenannten Risikogruppen bevorzugt werden. Dabei sieht die Impfverordnung der Bundesregierung vor, dass Personen, bei denen ein erhöhtes Risiko für einen schweren oder tödlichen Krankheitsverlauf mit dem Coronavirus besteht, ein ärztliches Zeugnis über ihre Erkrankung vorweisen müssen.

Dies könnte aber einen, dank stockender Impfliegerungen, bereits schleppenden Prozess deutlich verlangsamen. "Deswegen wäre der zuverlässigere Weg, über die Krankenkassen beziehungsweise die zuständigen Landesbehörden einzuladen", so Repschläger weiter.

Impfverordnung sieht keine Beteiligung der Krankenkassen vor

Die Impfverordnung des Bundesgesundheitsministeriums sieht jedoch momentan keine Beteiligung der Krankenkassen vor. Die Senatsverwaltung für Gesundheit und das Gesundheitsministerium Brandenburgs erhalten somit keine Daten von den Krankenkassen. Stattdessen verweist ein Sprecher des Landesgesundheitsministeriums darauf, dass in Brandenburg nur Personen im Alter von 80 Jahren und älter, Bewohnerinnen und Bewohner von Senioren- und Altenpflegeheimen sowie das Personal in der ambulanten Altenpflege geimpft werden können. Alles andere sei aufgrund der unzureichenden Impfstoffmengen momentan nicht möglich.

Wie das Gesundheitsministerium Brandenburgs rbb|24 mitteilte werden momentan nur Personen im Alter von 80 Jahren und älter, Bewohnerinnen und Bewohner von Senioren- und Altenpflegeheimen sowie das Personal in der ambulanten Altenpflege und den medizinischen Einrichtungen geimpft.
Wie das Gesundheitsministerium Brandenburgs rbb|24 mitteilte werden momentan nur Personen im Alter von 80 Jahren und älter, Bewohnerinnen und Bewohner von Senioren- und Altenpflegeheimen sowie das Personal in der ambulanten Altenpflege und den medizinischen Einrichtungen geimpft.

Datenschutzbeauftragter: Es gibt auch andere Möglichkeiten

Ob der Zugriff auf die Daten von Versicherten notwendig ist, bezweifelt auch der Bundesbeauftragte für den Datenschutz (BfDI). "Der BfDI hat bereits darauf hingewiesen, dass beispielsweise die Gruppe der aus Altersgründen vorrangig zu impfenden Personen über die kommunalen Melderegister abgerufen werden können", sagte ein Sprecher des Bundesbeauftragten am Mittwoch rbb|24. Hierzu gäbe es rechtlich mehrere Möglichkeiten, die auch ein weitgehend unbürokratisches Einladungsmanagement ermöglichen würden.

Die Landesgesundheitsministerium könnten sich beispielsweise die Daten der aus Altersgründen vorrangig zu impfenden Personen zentral aus den Melderegistern der Kommunen beschaffen und an die für die Einladung zuständigen Stellen weitergeben.

Bei Risikopatienten könne eine Priorität außerdem durch die Vorlage eines ärztlichen Attestes nachgewiesen werden. Die Coronavirus-Impfverordnung sehe auch vor, dass dieses Attest telefonisch angefordert und per Post übermittelt werden könne. "Die betroffenen Personen mit Vorerkrankungen müssen also noch nicht einmal persönlich zum Arzt", so der Sprecher. "Es ist also bereits sehr viel zu Beschleunigung des Verfahrens beschlossen worden."

Mit neuem Impfmodell könnte es doppelt so schnell gehen

Wichtige Fragen für die Corona-Impfstrategie sind: Welchen Personengruppen droht ein schlechter Krankheitsverlauf, wer steckt potentiell andere an, wer hat ein hohes Risiko einer Infektion und wo wäre es kritisch, wenn Menschen krankheitsbedingt ausfallen würden? Aus diesem Grund hat die Stiko 18 Erkrankungen identifiziert (Liste unten), bei denen das Risiko für einen schweren Corona-Verlauf besonders groß ist. Das betrifft nach Schätzungen der Barmer 10 bis 15 Millionen Menschen – allerdings, ohne dass eine Priorisierung innerhalb dieser Gruppe feststeht [tagesspiegel]. Die Impfung besonders gefährdeter Personen könnte also lange dauern. "Daher schlagen wir eine Verfeinerung des Modells vor", sagt Repschläger.

Mit dem Modell von Barmer könnte es doppelt so schnell gehen, Menschen mit Vorerkrankungen zu impfen und damit zu schützen. "Wir haben überprüft, wer im Jahr 2019 welche Vorerkrankung hatte und wer 2020 an Corona erkrankt ist." In einem zweiten Schritt habe sich Barmer darauf konzentriert, bei wem die Erkrankung einen schweren Verlauf hatte, also wer im Krankenhaus behandelt wurde oder sogar letztendlich verstorben sei.

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bifg: Nach 100 Tagen 90 Prozent weniger Todesfälle

"Mit der Auswertung haben wir 66 Erkrankungen identifiziert, die eine Relevanz auf den Covid-19- Verlauf haben", sagt der Leiter des bifg. Dazu zählen beispielsweise Trisomien, degenerative Hirnerkrankungen, Lungenmetastasen, Hämatologische Neubildungen, psychische Erkrankungen sowie Nierenversagen und HIV/Aids. "So könnten 45 Prozent der Sterbefälle in den ersten Wochen vermieden werden", erklärt Repschläger. Bereits nach 100 Tagen der alternativen Impfstrategie geht das bifg von einer Reduktion von etwa 90 Prozent der Todesfälle aus. Bei der Priorisie­rung der derzeitigen Impfverordnung läge dieser Wert bei 73 Prozent.

"Das ist aus meiner Sicht Zahlenspielerei", erwidert Terhardt, "die außerdem von vielen Details der Umsetzung abhängig ist." Die Sterberatenreduzierungsrate sei bereits jetzt durch die Impfung der altersbedingten Risikogruppen deutlich höher. Die Priorisierung der Stiko setze bereits klare Regeln, die sich je nach aktualisierter Datenlage auch noch verändern könnten.

Die Barmer jedoch besteht darauf, dass mit dem neuen Impfplan auch Krankenhäuser deutlich schneller entlastet werden könnten: So geht die Kasse nach etwa drei Wochen von einer Entlastung von etwa 25 Prozent aus [aerzteblatt.de]. Auch die Beatmung von Patienten könnte bereits nach zehn Impftagen um etwa 25 Prozent zurückgehen.

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