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Video: rbb24 Abendschau | 03.08.2022 | Jo Goll | Quelle: dpa/W. Kumm

Anschlagsserie von Neukölln

Richterin schließt Opfer rechter Gewalt als Nebenkläger aus

Der Berliner Linken-Politiker Ferat Kocak darf im Prozess zu einer rechtsextremen Anschlagsserie nicht als Nebenkläger auftreten. Die zuständige Richterin hat dies verwehrt. Opfervertreter sprechen von einem Skandal. Von Jo Goll

Am 29. August beginnt vor dem Amtsgericht Tiergarten der Prozess gegen die mutmaßlichen Haupttäter einer rechtsextremen Anschlagserie in Berlin-Neukölln – ohne den Linken-Politiker Ferat Kocak als Nebenkläger. Die zuständige Richterin hat seinen Antrag abgelehnt.

Kocak gehört zu den Opfern der Anschläge, leidet bis heute unter den Folgen eines Brandanschlags auf dem Grundstück seiner Eltern. Die Richterin behauptet in ihrer Entscheidung, Kocak habe "keine körperlichen und seelischen Schäden" erlitten, die eine Zulassung als Nebenkläger rechtfertigen würden.

Katastrophe gerade noch verhindert

Ferat Kocak ringt um Worte. Im Gespräch mit rbb24 Recherche wirkt der sonst so wortgewandte Abgeordnete der Linken-Fraktion fahrig und aufgewühlt. "Das macht mich traurig und auch wütend", sagt er. Vor allem die Begründung mache ihn fassungslos. Erst kürzlich habe er wieder psychologischen Rat einer Therapeutin eingeholt, "weil die Angstzustände und die schlaflosen Nächte immer noch allgegenwärtig sind."

Die Generalstaatsanwaltschaft wirft den beiden angeklagten Neonazis Sebastian T. und Tilo P. unter anderem vor, in der Nacht zum 1. Februar 2018 das Auto von Ferat Kocak in der Hofeinfahrt seines Elternhauses in Rudow angezündet zu haben. Kocak war damals von den Flammen geweckt worden, begann sofort zu löschen und verhinderte damit möglicherweise eine Katastrophe: Das Feuer hätte beinahe auf die in der Garage gelegene Gasleitung übergegriffen, es hätte zu einer Explosion kommen können, während seine Eltern im Haus schliefen.

"Mein Leid der letzten vier Jahre wird relativiert"

Juristisch betrachtet handelte es sich bei dem Brandanschlag um eine Sachbeschädigung. Diese stellt nach der Strafprozessordnung (StPO) zwar keine so genannte Katalogstraftat – wie sexueller Missbrauch oder Körperverletzung dar, die dem Geschädigten den Anspruch im Prozess als Nebenkläger aufzutreten, zuspricht. Doch die StPO macht im § 395, Absatz 3 die Zulassung zur Nebenklage möglich, "wenn dies aus besonderen Gründen, insbesondere wegen der schweren Folgen der Tat" für die Wahrung der Rechte des Opfers geboten scheint.

Doch die Amtsrichterin verneint in ihrem ablehnenden Beschluss vom 18. Juli 2022 "schwere Folgen der Tat" für Ferat Kocak. Wörtlich schreibt sie: "Auch die weiter vorgetragenen Folgen der Tat für den Zeugen Kocak begründen keine körperlichen oder seelischen Schäden von einer Erheblichkeit, die in §395, Absatz 3 StPO vorausgesetzt wird."

"Mein Leid der letzten vier Jahre wird relativiert", diesen Satz wiederholt Ferat Kocak immer wieder und schildert, wie sich sein Alltag seit dem Anschlag verändert habe. Wenn er auf die Straße gehe, blicke er sich immer wieder um. "Diese Angst, dass jederzeit etwas passieren kann, ist immer da."

Der Ende August beginnende Prozess, so Kocak weiter, sei für ihn sehr wichtig. "Ich möchte meine Position als Betroffener einbringen. Ich möchte, dass die Menschen sehen und hören können, wie Rechtsextremismus das Leben von Menschen verändern und zerstören kann", betont Kocak. Seine Mutter erlitt nach dem Anschlag einen Herzinfarkt, bis heute habe der Anschlag auch Auswirkungen auf das Leben seiner Eltern, so Kocak weiter.

Gerichtssprecherin: Es gilt die richterliche Unabhängigkeit

Auch Kocaks Anwältin Franziska Nedelmann wirkt im Gespräch mit dem rbb aufgebracht. Die erfahrene Strafverteidigerin berichtet, dass sie zwei Mal die Zulassung ihres Mandanten als Nebenkläger beantragt und dies auch auf zwölf Seiten ausführlich begründet habe. Die psychische Belastung durch den Brandanschlag habe auch konkrete Auswirkungen auf das Arbeitsleben von Ferat Kocak gehabt, berichtet die Anwältin dem Amtsgericht Tiergarten in ihrem dem rbb vorliegenden Antrag auf Nebenklage-Zulassung vom 29. Juni 2022.

Zwei Mal habe ihr Mandant seit dem Brandanschlag den Job wechseln müssen, da er sich "den hohen Arbeitsanforderungen angesichts seiner Ängste, Schlafstörungen und der damit einhergehenden Konzentrationsschwierigkeiten nicht mehr gewachsen fühlte."

Auf den Beschluss der Vorsitzenden Richterin angesprochen, bestätigt die Sprecherin der Berliner Strafgerichte, Lisa Jani, dass Nebenklagen dann zugelassen werden können, wenn "besonders schwere Folgen gegeben sind". Dazu, so Jani weiter, "gehören nach der Rechtsprechung zum Beispiel Traumatisierungen oder erhebliche körperliche Verletzungen".

Traumatisierungen? Ist jemand, der infolge einer rechtsextrem motivierten Brandstiftung an immer wiederkehrenden Angstzuständen und Schlaflosigkeit leidet nicht traumatisiert? "Es obliegt dem zuständigen Richter oder der zuständigen Richterin festzustellen, ob die Tatbestandsmerkmale vorliegen oder nicht", sagt Lisa Jani. "Im vorliegenden Fall hat die zuständige Richterin gesagt: Hier sind schwere Folgen nicht zu erkennen." Es könne "durchaus sein, dass ein anderer Richter anders entscheiden hätte", erklärt die Sprecherin, denn es gilt die richterliche Unabhängigkeit.

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Opfervertreter entsetzt

Heike Kleffner vom Verband der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt, beobachtet seit Jahren Neonazi- Prozesse. Dabei betreut sie auch die Opfer, die häufig als Nebenkläger auftreten. Sie hält die Entscheidung, Ferat Kocak nicht als Nebenkläger zuzulassen, für einen "absoluten Skandal". Entscheidungen wie diese, so Kleffner, "seien bundesweit sehr selten anzutreffen".

Kleffner weiter: "Man muss einfach sagen, das ist einer der Tiefpunkte der Berliner Justiz, wenn es um den Umgang mit schweren neonazistischen, rassistischen Gewalttaten und ihren Betroffenen geht." Die Richterin nehme Kocak das, "was der Gesetzgeber eigentlich mit dem Statut der Nebenklage vorsieht, nämlich die Tatfolgen dadurch zu bearbeiten und auch zu überwinden, dass man aktiv als Betroffener an der Aufklärung derartiger schwerer Gewalttaten beteiligt ist."

Wie Kocak geht es auch einem jungen Mann, der von einem der Angeklagten namentlich mit einer in seinem Hauseingang gesprühten Botschaft mit dem Tod bedroht wurde. Auch er wurde von der Amtsrichterin nicht als Nebenkläger zugelassen. Sein Anwalt Sven Richwin hatte den Antrag auf Nebenklage mit Verweis auf §395 Absatz 3 StPO (hier: §395 Absatz 1 Nr. 4 StPO) begründet und dabei auf die Tatbestände eines besonders schweren Falls der Nötigung und Beleidigung verwiesen.

Diese Tatbestände erachtet die StPO auch als mögliche Voraussetzungen für eine Nebenklagebefugnis, als sogenannte Kann-Bestimmung. Dennoch lehnte die Richterin auch diesen Antrag ab. Die Begründung im Beschluss vom 18. Juli 2022 erfolgte analog zum Fall Kocak: Keine schweren Tatfolgen.

Sendung: rbb24, 03.08.2022, 13:00 Uhr

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Beitrag von Jo Goll, rbb24 Recherche

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