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Audio: rbb | 01.09.2022 | Sebastian Schöbel | Quelle: dpa/H.Neubauer

rbb exklusiv | Diskriminierung von Muslimen

Expertenkommission des Senats fordert Abschaffung des Neutralitätsgesetzes

Nach dem Anschlag von Hanau setzte der Berliner Senat eine Expertenkommission zu antimuslimischem Rassismus ein. Nun liegt der Abschlussbericht vor – und beklagt Diskriminierung bei Berliner Behörden. Von Sebastian Schöbel

Eine Expertenkommission zu antimuslimischem Rassismus in der Berliner Verwaltung übt scharfe Kritik am Neutralitätsgesetz. Das Gesetz sei eine "systematische und institutionalisierte Diskriminierung gegenüber Frauen mit Kopftuch" und damit ein Beispiel für die "institutionelle und strukturelle Praxis des antimuslimischen Rassismus", schreibt die Kommission in ihrem Abschlussbericht, der dem rbb exklusiv vorliegt.

Das Berliner Neutralitätsgesetz gilt seit 2005 und verbietet weitgehend das Tragen religiöser Symbole in Teilen des Öffentlichen Dienste, vor allem in der Justiz und im Bildungswesen. Vor allem zwischen SPD und Grünen hatte es deswegen immer wieder Streit gegeben: Während die Sozialdemokraten das Neutralitätsgebot unterstützen, wird es von Grünen als diskriminierend kritisiert.

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Streit um Kopftuchverbot

Das Bundesarbeitsgericht hatte im Sommer 2020 im Fall einer muslimischen Lehrerin entschieden, dass zumindest das Kopftuchverbot unzulässig sei. Dagegen hatte die damalige Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) Verfassungsbeschwerde in Karlsruhe eingelegt - zum Ärger des damaligen Justizsenators Dirk Behrendt (Grüne). Wann eine Entscheidung fällt, ist unklar.

Die inzwischen von Senatorin Lena Kreck (Linke) geführte Justizverwaltung geht nach rbb-Informationen nicht davon aus, dass das Urteil das Neutralitätsgesetz als Ganzes abräumen wird. SPD, Grüne und Linke haben in ihrem Koalitionsvertrag allerdings angekündigt, das Gesetz anzupassen, sollte das durch ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts notwendig sein.

Die "Expertenkommission antimuslimischer Rassismus" wurde in Reaktion auf zahlreiche antimuslimisch motivierte Übergriffe in Berlin und vor allem den Terroranschlag in Hanau eingesetzt. In der hessischen Stadt erschoss im Februar 2020 ein 43-jähriger Deutscher neun Menschen mit Migrationshintergrund. Das Gremium sollte im Auftrag des Senats ergründen, ob und in welchem Ausmaß antimuslimische Vorurteile und Rassismus auch in Berlin verbreitet sind, vor allem in der Verwaltung und im Öffentlichen Dienst.

Für dem nun vorgelegten Abschlussbericht habe man mit Vertretern der Zivilgesellschaft und Betroffenen gesprochen, Workshops abgehalten und Stellungnahmen eingeholt.

Kritik an Polizei und Verfassungsschutz

Dabei beklagen die Experten auch, dass bei der Aufnahme von Straftaten durch die Polizei antimuslimische Motive zu oft übersehen, nicht verstanden oder ignoriert würden. "Wer antimuslimischen Rassismus nicht als solchen erkennt, kann ihn auch nicht erfassen", heißt es in dem Bericht. Dafür bräuchte es künftig einen entsprechenden Leitfaden und mehr Fortbildung für die Beamten, ähnlich wie es bereits für antisemitische Straftaten geschehe.

Kritisch betrachtet die Kommission auch die Arbeit des Verfassungsschutzes. Die Beobachtung von muslimischen Personen und Organisationen durch die Behörde komme häufig einer Vorverurteilung gleich - vor allem, wenn zum Beispiel einzelne Moscheen im Verfassungsschutzbericht auftauchen. Die Experten fordern nun, dass die Verfassungsschützer transparenter kommunizieren, wen sie beobachten und warum - und sich dabei auch kritischer hinterfragen, ob ein Verdacht nicht möglicherweise doch auf antimuslimischen Vorurteilen beruht. Dafür solle auch ein "Sonderbeauftragter für Rassismuskritik" im Verfassungsschutz installiert werden. Die Person solle prüfen, "ob Ansätze rassistischer Tendenzen erkennbar sind".

Verbindung zu Islamisten? Mitglied des Gremiums unter Verdacht

Die Forderungen der Kommission vor allem in Richtung Verfassungsschutz dürften für politische Diskussionen sorgen, denn das Gremium selbst stand ebenfalls in der Kritik. Ein Mitglied, Mohamad Hajjaj, war bis vor kurzem Geschäftsführer des Vereins Inssan, der 2004 im Jahresbericht des Verfassungsschutzes erwähnt wurde. Dabei geht es vor allem um mutmaßliche Verbindungen zur Muslimbruderschaft und der radikal-islamischen Hamas. Hajjaj hatte die Vorwürfe stets zurückgewiesen. In die Expertenkommission wurde er vom Islamforum der Berliner Integrationsbeauftragten entsandt. Nach Angaben der Justizverwaltung war Hajjaj seit November 2021 nicht mehr aktiv in der Kommission tätig und habe auch nicht am Abschlussbericht mitgewirkt.

In ihrem Bericht kritisiert die Expertenkommission nun, dass islamistischer Extremismus häufig mit dem Islam allgemein gleichgesetzt oder in Verbindung gebracht werden, deswegen hätten muslimische Organisationen Probleme, Fördergelder zu bekommen oder an Projekten teilzunehmen.

Unklar, wie viele Muslime es überhaupt in Berlin gibt

Antimuslimischer Rassismus richte sich aber nicht nur gegen Menschen, die tatsächlich dem islamischen Glauben angehören, sondern auch gegen Menschen, von denen das nur vermutet wird, schreiben die Experten. Die muslimische Religionszugehörigkeit - ob real oder eingebildet - werde missbraucht, um Menschen als "anders", vor allem als "nichteuropäisch" auszugrenzen. Dabei sei, so die Kommission, bis heute unklar, wie viele muslimische Gläubige es überhaupt in Berlin gibt.

Schuld daran seien auch offizielle Statistiken, die zum Beispiel Christen, Juden oder Angehörige anderer Religionen, sowie Atheisten aus mehrheitlich muslimischen Ländern wie der Türkei oder Afghanistan als "Muslime" führen würden.

Justizsenatorin Kreck dankte dem Gremium für den Bericht und versprach, man werde "die Anstrengungen zur Bekämpfung des antimuslimischen Rassismus verstärken und die Prävention ausbauen".

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Beitrag von Sebastian Schöbel

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