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Audio: rbb24 Inforadio | 18.07.2022 | Natalija Yefimkina | Quelle: privat

Tagebuch (12): Ukraine im Krieg

"Sie fahren besoffen mit ihren Militärfahrzeugen in den Gegenverkehr"

Anja hat wochenlang im besetzten Cherson ausgeharrt – bis ihr die Flucht glückte. Natalija Yefimkina in ihrem Kriegstagebuch über Anjas Alltag unter russischer Okkupation, den Fluch der Propaganda und Müllhalden mit Leichenteilen.

Seltsam, dass ich weniger über die Lage in der Ukraine verzweifelt bin. Sie ist schwer, aber ich rede mit Menschen vor Ort, spüre ihre Kraft, ihre Entschiedenheit, ihre Liebe zum Leben. Was mich verzweifeln lässt ist, wie wenig Verständnis hier dafür aufgebracht wird, in welcher Lage sich die Menschen befinden.

Einen meiner ersten Tagebuch-Einträge schrieb ich über meine Cousine, eine Lehrerin, die mit ihren beiden Kindern nach Berlin geflohen ist, weil ich hier bin und sie dadurch wenigstens jemanden hier kannte. Mittlerweile lebt sie seit Monaten in Berlin, sie wurde an zwei Schulen als Willkommenslehrerin für ukrainische Klassen eingestellt.

Sie ist bei meiner Producerin untergekommen, die ihr die Wohnung ihrer Eltern übergangsweise zur Verfügung gestellt hat. Doch jetzt im August muss sie raus. Seit Monaten sucht sie eine Wohnung. Alle wissen, dass es in Berlin schwierig ist, aber ihre letzte SMS, hat in mir wieder das Gefühl der Verzweiflung ausgelöst.

Zur Person

Julia schreibt mir:

Gerade ist eine Antwort von einer Wohnung in Moabit gekommen - das war das Angebot einer Mutter, das nach der Hilfe-Email der Schuldirektorin an die Eltern kam. Wir hatten uns lange hin und her geschrieben, die Wohnung wird gerade renoviert, aber im August fertig. Wir haben uns getroffen, sie sagte, sie fühle mit den Ukrainern und dass es ihr leid tue und sie uns helfen möchte. Sie hat sogar ein paar Tränen vergossen. Sie sagte, sie wolle die Wohnung an uns vermieten, da ich ja auch noch Lehrerin und mit Kindern bin. Für ein Jahr.

Sie ließ sich meinen Arbeitsvertrag zeigen, die Schufa und die Gehaltsabrechnung der letzten drei Monate - das ist im Grunde alles, was ich in Deutschland je verdient habe. Ich habe ihr das geschickt und gesagt, dass meine Arbeitserfahrung jetzt sogar anerkannt wurde und ich bald mehr Gehalt bekomme und dass mein Mann aus der Ukraine uns auch bereit ist zu unterstützen. Die Miete der Wohnung liegt bei 950 €. Das ist zwar viel, aber immerhin noch weniger als die Hälfte meines Gehaltes. Und jetzt kam ihre Antwort.

Dear Julia,

Thank you very much for sending the documents.

After reviewing your documents, unfortunately I cannot rent the apartment to you and had to choose another tenant. The income rent ratio does not suffice. One income is too risky. I am very sorry!

I wish you all the best.

Kind regards
A.*

Anja und ihre Familie | Bild: privat | Quelle: privat

Ich telefoniere mit einer Frau, die aus Cherson, dem okkupierten Süden der Ukraine, geflohen ist und bitte Sie, sich vorzustellen. Ihren Nachnamen nennen wir nicht, um ihre Verwandten nicht in Gefahr zu bringen.

Ich heiße Anja, ich bin 31 Jahre alt und habe bis zum 5. April 2022 in Cherson gelebt. Ich bin selbstständig.

Was für eine Art von Selbständigkeit?

Wir haben unsere eigene GmbH, wir machen… Entschuldigung, aber wenn ich sage, was wir machen, ist es ganz einfach in Cherson herauszufinden, wer wir sind.

Am 24. Februar hat mich mein Mann aufgeweckt. Er war gerade im Nachtzug aus Kiew unterwegs, der um 8 Uhr morgens in Cherson ankommen sollte. Er rief mich an und sagte, der Krieg hat angefangen. Füll die Behälter mit Wasser auf und pack die Sachen für die Kinder zusammen.

Ich war noch verschlafen und habe das nicht richtig geglaubt - was für ein Krieg, komm erstmal nach Hause und dann denken wir zusammen nach.

Schon ein paar Minuten später war eine Explosion zu hören. Sie kam vom Flughafen im Vorort Tschornobajiwka. Ich schaute nach draußen und sah eine Rauchsäule aufsteigen. Dann folgte eine zweite Explosion, es war sehr beängstigend.

Ohne wirklich zu verstehen, fing ich panisch an, Wasser und Essen einzupacken. Dann zog ich die Kinder an und wir fuhren zum Bahnhof, um meinen Mann abzuholen. Wir mussten ja was machen und entscheiden, ob wir wegfahren oder zuhause bleiben. Aber wohin sollten wir gehen? Wir entschieden uns zu bleiben.

Im Laufe des Tages kauften wir alles Nötige ein. Gegen 22 Uhr fing über unserem Haus eine große Zahl von Hubschraubern an zu kreisen, mit russischen Symbolen, sehr nah, direkt über den Dächern. Dann gab es Explosionen.

Die ersten Tage saßen wir zuhause und wagten uns nicht auf die Straße. Dann fingen Kampfjets an, über Cherson zu fliegen, sie bombardierten die Antonov-Brücke.

Die Apotheken waren geschlossen, die Geschäfte auch. Die verletzten Soldaten und Stadtbewohner im Krankenhaus aber brauchten Medikamente. Als mein Mann und ich einmal Lebensmittel ins Krankenhaus brachten, kam ein Arzt raus und gab uns mit zitternden Händen eine Liste mit Medikamenten. Er sagte, bitte helft, wir brauchen diese Medikamente ganz dringend.

Über die Sozialen Netzwerke erfuhren wir, dass die Apotheke der Pharmazeutischen Fabrik als einzige noch Medikamente verkauft. Wir besorgten dort Schmerzmittel und Verbandmaterial und brachten es ins Krankenhaus.

Am nächsten Tag, das war der 2. März, marschierten die russischen Soldaten ein und beschossen diese Fabrik, die einzige in der Stadt. Sie ist abgebrannt. Die Feuerwehr ließ man nicht hin, auf sie wurde geschossen, damit sie nicht löschen können.

Anja und ihre Tochter | Quelle: privat

Seit diesem Tag ist Cherson okkupiert. Es gab hier keinen einzigen grünen Korridor. Humanitäre Hilfe wurde nicht nach Cherson durchgelassen. Menschen, die Medikamente oder Hygieneartikel brauchten, Babynahrung, Windeln oder Fibersenker fürs Kind - alles wurde über Facebook, Instagram oder über Freunde und Verwandte organisiert.

Sobald die russische Armee aber die Stadt eingenommen hatte, schalteten sie sofort das Internet ab, alle Anbieter. Es war unmöglich, Verwandte zu erreichen oder einen Notarzt zu rufen. Es gab überhaupt kein Netz.

Seither gibt es in Cherson auch nur russisches Fernsehen. Propaganda. Unsere Nachbarn zum Beispiel sind Rentner. Sie schauen seit vier Monaten russische Fernsehsender. Da lief zum Beispiel der Beschuss von Belazorka. Drei Minuten nachdem russische Soldaten das Wohngebiet bombardiert hatten, kamen sie, um einen Film zu drehen, wie angeblich ukrainische Soldaten das Viertel beschossen hätten. Und das lief dann im TV. Menschen, die keinen Zugang zum Internet und zu ukrainischen Nachrichtenkanälen haben, glauben da dran. Propaganda funktioniert irgendwie so, dass Menschen, die eigentlich für die Ukraine waren, die Wahrheit anders anfangen zu empfinden.

Ja, Propaganda ist ein heftiges Ding. In Deutschland wird auch unterschätzt, wie stark das wirkt. Dabei hat es in der Nazi-Zeit ja auch funktioniert. Damals gab es nicht mal Fernsehen und trotzdem haben alle geglaubt.

Ich bin einfach geschockt. Natürlich gibt es Menschen, die für die Ukraine sind, aber alle versuchen in der Okkupation irgendwie zu Recht zu kommen. Und es gibt auch Leute, die sagen, Russland ist zu uns gekommen und jetzt haben wir wieder Brot oder Benzin und Medikamente. In diesen vier Monaten haben manche vergessen, wie sie vor der Okkupation gelebt haben.

Was die Orks [Anm.d.Red.: abschätzig für russische Soldaten] dort anstellen, ist unbeschreiblich. Es gibt eine unglaubliche Zahl an Unfällen in Cherson. Sie halten sich nicht an Verkehrsregeln. Sie fahren besoffen mit ihren Militärfahrzeugen in den Gegenverkehr, überfahren andere und hauen ab, ohne medizinische Hilfe zu leisten.

Das ist kein Leben, das ist Existieren, ständiger Stress, der sich auf die Psyche auswirkt. Dabei gewöhnst du dich an die Explosionen: Es fängt gegen 6 Uhr morgens mit dem Abfeuern der Raketen aus Mykolajiw an. Du hörst sie, frühstückst, versorgst die Kinder. Wenn du mehr als sechs Stunden nichts hörst, fängst du an dir Sorgen zu machen, warum es so ruhig ist.

Als es in Tschornobajiwka einschlug, in die Lagerhallen voller Armeetechnik, war es die ersten Male sehr laut. Dann habe ich den Kindern gesagt, sie sollen Metallschüsseln über ihre Köpfe halten. Wenn starker Beschuss anfing, haben sie sich versteckt und griffen nach den Schüsseln. Ich war so ruhiger, dass ich irgendwas gemacht habe, falls es ins Haus einschlägt (atmet tief aus)

Wenn ich mich jetzt daran erinnere, fangen meine Hände an zu zittern. Ich bin einen Monat lang nicht aus dem Haus gegangen. Auf unserer Straße fuhren die russischen Militärfahrzeuge mit dem Buchstaben Z an unserem Haus vorbei. Von unserem Hof aus haben wir gesehen, wie sie Raketen abfeuern, und haben ständige Explosionen gehört.

Tagebuch (10): Ukraine im Krieg

"Den Mädchen wurden die Zähne ausgeschlagen, die Vorderzähne"

Wer zu Tatiana kommt, ist am Ende. Die Psychologin arbeitet in Kiew mit den schwer misshandelten Opfern des Krieges. Natalija Yefimkina in ihrem Kriegstagebuch über den Versuch, sich aus dem Grauen wieder herauszukämpfen.

Die Fenster hatten wir mit Pappen und irgendwelchen Brettern versehen. Wir haben eine Garderobe im Haus, das ist der einzige Ort, der keine Fenster hat. Die Kinder haben einen Monat lang dort auf dem Boden geschlafen. Und dort saßen sie auch, wenn Explosionen zu hören waren. Sie sind 5 und 9 Jahre alt.

Die Autos der Menschen, die eigenständig versucht haben, aus Cherson nach Mykolajiw herauszukommen, wurden beschossen. Aber es war auch sehr gruselig in Cherson zu bleiben. Es ist, als ob du dich in deinem eigenen Haus befindest und gleichzeitig im Gefängnis. Du fühlst keine Sicherheit, du hast die ganze Zeit Angst, dass sie zu dir nach Hause kommen.

Mein Vater hat 2015 in einem Freiwilligenbataillon in der Region Donezk gekämpft. Als die russische Armee Cherson eingenommen hatte, muss ihnen jemand die Listen mit den Namen der ehemaligen Kämpfer und früheren Regierungsbeamten übergeben haben.

Sie durchkämmten die Wohnungen dieser Menschen. Aber Cherson ist sehr klein, alle kennen sich, und so hat das mein Bruder mitgekriegt und meinen Vater versteckt. Ich weiß nicht wo, er hat es nicht mal mir gesagt. Mittags brachte er ihn weg und am nächsten Tag um 6 Uhr morgens klopften bei meinen Eltern zuhause russische Soldaten. Sie haben überall gesucht, in den Schränken, unter den Betten. Wir behaupteten, dass mein Vater noch vor dem Krieg nach Kiew gefahren sei und dort irgendwo ist. Dann sind sie gegangen.

Die Menschen, die verschleppt wurden, wurden sehr stark gequält und geschlagen. Ihnen war es danach verboten, sich medizinische Hilfe zu holen, damit die Spuren der Schläge, der Verletzungen und der Brüche nicht offiziell bekannt werden. Sie sagten, wenn du das machst, dann töten wir dich, wir kommen und töten dich.

Hat es auch Bekannte oder Verwandte von Ihnen getroffen oder woher kommt diese Information?

Bekannte von mir waren in Gefangenschaft. Und ich habe Freunde, die in der Gefangenschaft gesehen haben, wie vor ihren Augen andere Menschen umgebracht wurden. In Cherson gibt es in der Gegend von Severnaja eine große Müllhalde. Noch in der Zeit, als wir in Cherson waren, wurden auf dieser Müllhalde massenhaft menschliche Körperteile und tote Körper abgeladen. Seit dieser Zeit, also seit vier Monaten, hat die Müllhalde mehrmals gebrannt. Sie fahren die Körper von russischen Soldaten sowie die von zu Tode gefolterten Zivilisten dort hin und verscharren sie…

Und woher stammt diese Information?

Sie ist aus Cherson. Gerade heute brennt die Müllhalde wieder. Das hat ein Freund von mir gesehen. Er hat selbst gesehen, wie ein großer Lastwagen der Armee dort Teile von Körpern abgeladen hat, die bluteten… (sie stockt) … diese Reste, das ist so finster…

Freunden, die in Gefangenschaft waren, wurde gedroht, ob sie auf die Tschornobajiwka wollen? Hinter Tschornobajiwka gibt es ein Massengrab unserer Zivilisten. Einer wird umgebracht, ein anderer freigelassen. Aber das darf man nicht erzählen.

Wer darf das nicht erzählen? Die Menschen, die da rausgekommen sind?

Ja. Menschen, die das überlebt haben, dürfen nichts erzählen. Erst wenn sie sich auf dem von der Ukraine kontrollierten Boden befinden. Denn es gibt ständige Drohungen und die Menschen, die sich in den okkupierten Territorien befinden, dürfen nichts sagen und auch nicht in sozialen Netzwerken Schlechtes über die russische Armee schreiben.

Tagebuch (5): Ukraine im Krieg

"Sie schossen durch die Küchentür, mit einem Abstand von vier Metern"

Andreis kleines Hotel in der Nähe von Kiew wird beschossen. Kurz darauf dringen russische Soldaten ein: Natalija Yefimkina hält von Berlin aus Kontakt mit Menschen in der Ukraine - und berichtet darüber in diesem Tagebuch.

Und wie sind Sie aus Cherson herausgekommen?

Der letzte Anstoß zum Gehen war, als die Geschosse direkt vor unserem Haus einschlugen. Die Kinder waren sehr verängstigt, sie hatten Schreianfälle, sie weinten, da entschieden wir uns zu fahren.

Es ist sehr schwierig, sich für das Fahren zu entscheiden. Einerseits hast du auch zuhause Angst und du kannst dort nicht sein, andererseits hat man Angst eine Entscheidung zu treffen: Was wenn du es nicht schaffst rauszukommen oder wenn, Gott bewahre, dein Kind umgebracht oder es verletzt wird. Wie soll man danach damit leben?

Auf Telegram gibt es sehr viele Gruppen, in denen Leute schreiben, wie sie herausgekommen sind. Die checkten wir einen ganzen Tag lang. Da fanden wir die Info, dass man Richtung Snigirowka fahren könnte und dass dort die Männer nicht so stark kontrolliert würden.

Wir fuhren insgesamt mit 5 Kindern und sieben Erwachsenen in zwei Autos. Dazu drei Hunde, ein großer, ein kleiner und mein eigener, sowie zwei Katzen. Am ersten Checkpoint befahl man mir, aus dem Auto zu steigen. Ich zeigte meinen Pass vor, man sagte mir, ich solle den Kofferraum öffnen. Dort ist mein Hund, sagte ich. Er richtete das Gewehr auf den Hund, lud durch und sagte, ich werde ihn erschießen.

Dann fügte er hinzu, wenn er mich beißt. Meine Hände und Knie fingen sofort an zu zittern, ich sagte, sie beißt nicht. Und dann sagte er: War ein Witz, haha, ein Witz …

Quelle: privat

Als wir am ersten ukrainischen Checkpoint ankamen und unsere Soldaten sahen und die blau-gelbe Flagge, mussten wir weinen. Alle haben geheult. Wir haben uns bei ihnen bedankt, dass sie uns beschützen (ihre Stimme bricht).

Jetzt sind in Cherson noch meine Eltern. Es ist sehr gefährlich, sich mit dem eigenen Auto fortzubewegen, weil sie sich was Neues ausgedacht haben. Wenn du nicht der Fahrzeughalter bist, brauchst du zum Fahren eine spezielle Erlaubnis. Hast du die nicht, nehmen sie dir das Auto weg. Nach den ukrainischen Gesetzen brauchst du die nicht, aber sie fordern eine ukrainische Erlaubnis.

Also Ihre Eltern sind nicht mit. Sie sind dortgeblieben.

Meine Oma ist 88 Jahre alt ist und wollte nirgendwo hinfahren. So sind sie jetzt dort. In Cherson gibt es keine ukrainischen Mobilfunknetze mehr. Bargeld vom eigenen Konto kann man nur gegen 10 % Gebühr einwechseln. Die Lebensmittelpreise sind in die Höhe geschnellt, nur Obst und Gemüse sind günstig. Aber Hygieneartikel sind sehr teuer, ein ganz gewöhnliches Shampoo das früher 30 Grivna gekostet hat, kostet jetzt 150 Grivna.

Auch mit Medikamenten ist es sehr schwierig. Sie haben in Cherson russische Medikamente eingeführt, die von der Krim kommen. Aber die wirken nicht. Es ist sinnlos, Kopfschmerzen mit russischem Paracetamol zu bekämpfen. Es funktioniert nicht.

Aber was ist mit Ihren Eltern?

(Atmet tief aus und lacht gedämpft) Sie leben einfach und warten auf die Befreiung von Cherson. Ich verstehe die Frage nicht…

Quelle: privat

Haben sie Kontakt zu Ihnen? Wie geht es Ihnen?

Sie haben einen schwierigen emotionalen Zustand. Ich hatte zwei Wochen lang keinen Kontakt zu ihnen. Erst als die Mobilanbieter gegen Russischen eingewechselt wurden und sie das Internet von der Ukraine abkoppelten und über die Krim leiteten, können wir wieder mit ihnen via Telegram reden.

Die Orks zwingen die Menschen russische SIM-Karten zu kaufen. So kann man wenigstens in Cherson telefonieren. Um eine SIM-Karte zu kaufen, muss man seine Passdaten hinterlassen. Meine Eltern haben das nicht gemacht und wollen das auch nicht machen, damit die Okkupanten ihre Daten nicht bekommen.

Ganz Cherson ist zu einem hemmungslosen Markt geworden, auf dem du alles kaufen kannst, Fleisch, das bei + 30 Grad tagelang ohne Kühlschrank rumliegt, Milch, Alkohol, in dieser Hitze - ohne jegliche Kontrollen.

In die Häuser, in die leeren Wohnungen, sind sehr viele Ausländer eingezogen, (lacht) Kommandeure, ich weiß nicht, wie man sie richtig nennt, ja, russische Kommandeure. Sie haben ihre Familien mitgebracht und zogen in Wohnungen ein, die Menschen verlassen mussten. Auch im Haus meiner Eltern wohnen bereits drei Familien.

Tagebuch (11): Ukraine im Krieg

"Sucht nicht den Krieg, er wird euch von selbst finden"

Das Azot-Werk ist ein gewaltiger Industriekomplex in Sjewjerodonezk. Seit Wochen kämpft hier Bohdan gegen die Russen. Natalija Yefimkina in ihrem Kriegstagebuch über einen Freiwilligen, der den Krieg da erlebt, wo er am schlimmsten tobt.

Warum werden sie dort einquartiert?

Ich weiß es nicht. Es leben in diesen Wohnungen nicht nur Armeeleute, dort wohnen auch Frauen mit Kindern, alte Menschen, Rentner - wahrscheinlich die Eltern der Armeeleute. Mama sagte, sie seien sehr höflich, aber bestimmt nur bis zu einem bestimmten Zeitpunkt.

Aber man darf doch nicht wissen, wo Ihr Papa ist?

Ja, das darf niemand mitkriegen, aber es geht ihm gut. Es ist sehr gefährlich in Cherson auf die Straße zu gehen, weil junge Männer, die einfach auf der Straße laufen, festgenommen, ins Auto gesetzt und an unbekannte Orte gebracht werden. Auch junge Frauen können sie einfach verschleppen. Sie werden dann als vermisst gemeldet und niemand weiß, wo sie sind. So ist es.

Haben sie Beispiele?

Das haben Menschen erzählt, die gesehen haben, wie eine mir unbekannte junge Frau gegen 17 Uhr einfach von der Straße in ein Auto gezehrt und weggebracht wurde.

Furchtbar

Meine Schwiegermutter versucht jetzt herauszukommen. Aber das ist nicht leicht, jetzt schreiben sie, dass die Autos beschossen werden und niemand durchgelassen wird.

Die Orks haben angefangen Unternehmen auszurauben und sie wegzunehmen. Wenn du mit der Regierung der Okkupanten kooperierst, darfst du arbeiten, wenn du aber nicht mit ihnen zusammenarbeitest, wirst du überhaupt nicht mehr arbeiten.

Was bedeutet denn zusammenarbeiten?

Ihnen Geld zahlen und die russische Föderation unterstützen, öffentlich sagen, dass Cherson Russland ist und für immer sein wird. Wenn du das nicht sagst, dann bist du gegen Russland. Aber wir alle wissen, dass Cherson Ukraine ist und das bald über Cherson eine blau-gelbe Fahne wehen wird. Sehr viele Menschen warten darauf jeden Tag, nur noch ein bisschen durchhalten, die ukrainische Armee ist schon nah.

Wie fühlen Sie sich? Das alles ist doch sehr schwer.

(lacht) Ja, das ist sehr schwer. Ich habe mich etwas von der Okkupation erholt. Jetzt ist es einfacher. Ich wundere mich nicht mehr, dass ich einfach auf der Straße laufen kann und einfach Auto fahren kann. Als ich in Odessa ankam und diese Geschäfte gesehen habe, Menschen, die keine Angst haben, die ein normales Leben leben, das war krass. Du siehst das mit völlig anderen Augen.

Wie geht es jetzt den Kindern?

Als wir durch die Checkpoints fuhren, hatten sie Angst und ich habe sie gebeten sich zusammenzureißen, nichts zu sagen, und jegliche Fragen mit irgendeiner Art von Lächeln zu beantworten, auch wenn sie Angst haben.

Dann kamen wir in Odessa an und hörten Bombenalarm und Explosionen der Luftabwehr. Nach zweieinhalb Wochen fuhr ich weiter nach Moldova zu Verwandten. Dort fragte mich meine Tochter, Mama, ist es hier wirklich ungefährlich? Ich habe ihr gesagt, ja Maschenka, hier ist alles gut. Und sie fragte, wird es hier nicht mal Bombenalarm geben? Nein, kein Bombenalarm. Nicht mal Explosionen? Nicht mal Explosionen.

Ich und mein Mann versuchen die Kinder maximal von all dem abzuschirmen und ihnen wenigstens ein Stück Kindheit zu lassen. Die Explosionen, die bei uns Zuhause zu hören waren, haben sie sich für immer gemerkt und wenn starkes Unwetter ist, bekommen sie Angst, jemand könnte wieder schießen.

Vor allem ist es hart, weil dort die Verwandten geblieben sind…

Ja, wir gucken hier ständig die letzten Nachrichten, halten Kontakt, um zu wissen, was dort ist, wie es ihnen geht. Sie haben jetzt nur das Nötigste zum Sein, denn in der Okkupation hast du überhaupt keine Rechte. Du betest einfach, dass sie nicht zu dir nachhause kommen und nicht deinen Mann, deinen Bruder holen, auch wenn sie keine Freiwilligen oder Aktivisten sind. Sie kommen und holen die Menschen.

UPDATE (18.07.2022): Kurz nach Redaktionsschluss zu diesem Artikel wurde Anjas Bruder von russischen Besatzern festgenommen. Sein Verbleib und die Hintergründe der Festnahme sind unklar.

*Übersetzung:
Liebe Julia,

Vielen Dank für die Zusendung der Unterlagen.

Nach Sichtung Ihrer Unterlagen kann ich die Wohnung leider nicht an Sie vermieten und musste einen anderen Mieter auswählen. Das Einkommen ist im Verhältnis zur Miete nicht ausreichend. Ein Einkommen ist zu riskant. Es tut mir sehr leid!

Ich wünsche Ihnen alles Gute.

Mit freundlichen Grüßen
A.

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Beitrag von Natalija Yefimkina

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