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Audio: rbb24 Inforadio | 04.06.2022 | Natalija Yefimkina | Quelle: Quelle: privat

Tagebuch (10): Ukraine im Krieg

"Den Mädchen wurden die Zähne ausgeschlagen, die Vorderzähne"

Wer zu Tatiana kommt, ist am Ende. Die Psychologin arbeitet in Kiew mit den schwer misshandelten Opfern des Krieges. Natalija Yefimkina in ihrem Kriegstagebuch über den Versuch, sich aus dem Grauen wieder herauszukämpfen.

TRIGGERWARNUNG: Dieser Text enthält Beschreibungen von schweren Gewalttaten, was verstörend, belastend oder sogar retraumatisierend wirken kann.


Neulich war ich auf einen Geburtstag bei sehr wohlhabenden Leuten eingeladen. Einer zeigte Fotos seines Hauses herum, ein Seegrundstück, das angeblich drei Millionen Euro gekostet hat. Offenbar hatte das gesamte Haus vor dem Kauf ein komplettes Inventar aus den 60er Jahren, von den Lampen über den Marmorboden bis zum Parket. Weil seine Frau es aber gerne asiatisch schlicht mag, wurde das alles rausgerissen.

Später erzählt mir eine deutsche Bekannte auf der Party, dass genau dieser Typ, dem auch ein paar Mietshäuser gehören, dort die Mieten erhöht hat, obwohl er weiß, dass dort gerade auch Ukrainer wohnen. Dann sagte sie, sie finde es schon unglaublich, wie der Krieg politisch ausgenutzt wird.

Vom wem, frage ich sie. Na, von den Deutschen, sagt sie. Es gäbe halt Premium-Flüchtlinge wie die Ukrainer und Flüchtlinge zweiter Klasse. Viele Freunde von ihr, Deutsche, würden in Berlin eine Wohnung suchen und keine finden. Warum gehen die Ukrainer nicht woandershin, warum so viele nach Berlin, es gibt doch überall schöne kleine Städte in Deutschland.

Zur Person

Die Telefongespräche wurden abgefangen

Ich starte den Versuch ihr zu erklären, was es bedeutet zu fliehen, entwurzelt zu werden, sich irgendwo niederzulassen und dann wieder weiterziehen zu müssen. Aber es gibt doch überall Übersetzer und Freiwillige, sagt meine Bekannte. Ich antworte ihr, dass die Freiwilligen doch auch am Ende ihrer Kräfte sind. Und nach drei Monaten müsste man vielleicht auch mal anfangen, sie zu bezahlen. Darauf sagt die Bekannte, der Staat habe auch seine Grenzen, sie frage sich wirklich, was ihre Kinder dann alles in Zukunft abbezahlen müssen. Zuvor hatte sie mir gesagt, dass sie erst letzte Woche ein Haus mit Grundstück in Bayern gekauft hat.

Parallelwelten - ich fühle mich ohnmächtig nach dem Gespräch. Erst kürzlich habe ich einen Text übersetzt, der eines von tausenden Gesprächen russischer Soldaten wiedergibt. Die Telefongespräche wurden abgefangen, da die russischen Soldaten das ukrainische Mobilfunknetz benutzen. In diesen Unterhaltungen mit Müttern und Ehefrauen kommen auch Sachen vor, die russische Soldaten vor Ort machen. Manche erzählen offen von Vergewaltigungen und Folter, von Folterkammern des russischen Geheimdienstes FSB und ihren Methoden. Eine Ehefrau etwa sagt zu ihrem Mann, er solle verhüten, aber so viele Frauen wie möglich fertig machen. Und als einer sagt, ich drehe durch hier, wir töten Menschen, antwortet seine Mutter, nein tust du nicht, das sind doch keine Menschen.

Es gibt von diesen Gesprächen genaue Angaben über den Ort, die Brigade, das Facebook-Profil dieser Soldaten, ihre Telefonnummer, alles. Ich will mehr über die Gewalt und das Vorgehen der Russen erfahren und rufe deshalb Tatiana an. Tatiana ist Psychologin in Kiew und arbeitet mit Gewaltopfern.

"Manchmal denke ich, es ist einfach nur ein surrealer Traum"

Ich heiße Tatiana Irusalimskaja und bin 49 Jahre alt. Ich bin Psychologin, Reha-Spezialistin, Osteopathin und die Direktorin des Instituts für Höhere Psychologie und Körpertherapie.

Am 24. Februar wachte ich morgens um vier auf, weil Kiew erstmals bombardiert wurde. Ich bin trotzdem hiergeblieben, die ganze Zeit, obwohl es auch heute wieder zwei Mal Bombenalarm gab.

Tatjana, wie haben Sie sich zu Kriegsbeginn gefühlt und wie ist es jetzt für Sie?

Wissen Sie, Ihre Frage löst gerade in mir ein körperliches Gefühl aus, das ich seit Kriegsausbruch nicht gefühlt habe. Einfach die Frage, wie ich das alles empfinde… da ist alles dabei bis hin zu Tränen.

Es gab viele verschiedene Gefühlsstufen. Sehr viele meiner Bekannten sind umgekommen, vor allem in Butscha, Vorzel, Borodjanovka, aber auch in Kiew selbst. Da, wo ich wohne, sind mehrere Bomben runtergekommen und meine Fenster haben gewackelt. Es fühlte sich an, als würde mein Haus getroffen. Das ist furchtbar und sehr beängstigend, ich verstehe es bis heute nicht. Manchmal denke ich, es ist einfach nur ein surrealer Traum, dass Russland meine Städte bombardiert und sie von der Erdoberfläche tilgt. Ich dachte, wir seien Brüder.

Tatiana | Bild: privat | Quelle: Quelle: privat

Recht auf Existenz

Ich bin mehrfach nach Butscha gefahren, um mit den Menschen dort zu arbeiten, das ist ja nur 20 km von Kiew weg. So war ich auch dabei, als die Gräber mit Mädchen gefunden wurden - der Expertise nach waren sie vergewaltigt worden. Nachdem sie getötet wurden, übergoss man sie mit Benzin und versuchte, sie zu verbrennen.

Viele Vergewaltigungen … und sie haben nicht nur Mädchen ab 12, sondern auch Kinder vergewaltigt. Ich verstehe nicht, wie es möglich ist, dass sie einen 9-jährigen Jungen vergewaltigt haben oder eine 90-jährige Oma. Das sind doch keine Menschen… als Butscha befreit wurde, gab es Mädchen, die bereits schwanger waren.

Wir reden gar nicht von Frauen ab 18, die werden irgendwie überleben. Aber diese Mädchen von 12 bis 15 Jahren, die noch nie Beziehungen hatten, die nicht mal wissen, was Sex ist, wurden vergewaltigt überall, wo es nur ging, entschuldigen Sie, ich werde nicht sagen wie und wo, aber von drei Menschen gleichzeitig. Ihnen wurden die Zähne ausgeschlagen, die Vorderzähne.

Sie waren furchtbarer Gewalt ausgesetzt und man sagte zu ihnen, du wirst nie Kinder gebären, du wirst dir diesen Tag für immer merken, damit du nie wieder möchtest, dass ein Mann dich anfasst, weil die Ukrainer [sie benutzt ein Schimpfwort für Ukrainer] kein Recht auf Existenz haben. Mit solchen drei Mädchen arbeite ich…

Quelle: privat

Heute ist Butscha schon Vergangenheit. Dann hat man mich gefragt, ob ich nach Izjum fahren kann, um dort mit Gewaltopfern zu arbeiten, aber das ist zu weit weg. Ich bin hier in Kiew völlig ausgelastet mit Arbeit, aber dort passiert das Gleiche - in Mariupol, in Cherson und auch in Izjum.

Ein kleines Mädchen, ein halbes Jahr alt, haben sie … vor der Mutter so vergewaltigt, dass das Kind innere Blutungen hatte. Ich arbeite jetzt mit der Mutter, das Mädchen ist gestorben, sie war ein halbes Jahr alt! Die älteren Menschen, die um die 90 sind, sagen, dass selbst die Faschisten nicht so waren, wie jetzt die russische Armee Menschen quält.

Es ist sehr beängstigend, wenn Menschen in Europa auch nur ein Stück weit dem Glauben schenken, was die russischen Medien sagen. Wir werden umgebracht, vergewaltigt und gefoltert, Zivilisten werden die Arme verbunden, auf die Knie gezwungen und umgebracht. Später findet man ihre Leichen zu dritt, zu fünft in Gruben, Kellern und der Kanalisation.

"Die Tiere helfen mir sehr"

Tatjana, was ist mit ihrer eigenen Familie? Sind sie geflohen?

Mein Mann ist Osteopath, genau wie ich. Jetzt verteidigt er uns, fast vom ersten Tag an. Meine Kinder sind nicht mehr klein und konnten selbst entscheiden. Sie wollten nicht weg.

Es ist sehr schwer für uns, wir leben doch in Europa, im 21. Jahrhundert! Und wir haben einfach nur gelebt. Ich zum Beispiel hatte mein Institut, die Arbeit, Enkel, Patienten, ich hatte alles. Bis irgendwelche Tiere in mein Leben eindrangen, einfach so, und mir alles genommen haben. Aber ich arbeite weiter, in der Anfangszeit habe ich Freiwilligenarbeit gemacht, jetzt versuche ich eine NGO zu gründen.

Wie kommen Sie mit all dem zurecht?

Sofort wenn ich mich ausgebrannt fühle, mache ich eine Supervision bei einem älteren Kollegen, der mich wieder in Ordnung bringt. Ich empfange dann keine Patienten. Ich habe meine Methoden. Jetzt ist es warm, da kann ich im Park spazieren gehen. Ich habe zwei Hunde, einen Labrador und einen Border Collie, und eine Katze, die ich von der Straße gerettet habe. Die Tiere helfen mir sehr. Dank der Hunde, ob ich will oder nicht, gehe ich zwei Mal am Tag nicht weniger als eine Stunde spazieren.

Sie arbeiten ja auch mit minderjährigen Kindern, die Gewalt ausgesetzt waren.

Ja, ich behandele zwei Mädchen mit der Erlaubnis ihrer Eltern. Erstmal muss man diese Kinder auffangen, sprechen kann man mit ihnen nur schwer. Als Osteopathin kann ich aber körperlich mit ihnen arbeiten. Aber wie soll ich das sagen, es ist sehr schwierig. Es sind junge Menschen, die vieles noch nicht verstehen. Sie haben niemandem etwas Schlechtes angetan. Sie sind 13 und 15 Jahre alt aus Vorzel und Butscha.

"Sonst werde ich emotional und das möchte ich nicht"

Die Mamas und Papas haben eine Psychologin ausgesucht, die es geheim halten kann, weil sie wollen, dass die Kinder später ein normales Leben führen. Was passiert ist, kann man nicht mehr rückgängig machen. Ich habe die Mädchen gefragt: Wovor sie am meisten Angst haben, ist, dass man das über sie erfährt und es irgendwie rauskommt.

Unsere Psychologen sind gerade alle mit solchen Erfahrungen konfrontiert, die es wahrscheinlich in der heutigen Welt so bisher nicht gab. Auch die Israelis sind geschockt, sie dachten, sie leben so lange im Krieg und können uns was beibringen, aber sie können uns nichts beibringen. Wir machen eine völlig neue Erfahrung, die ich gerne nicht machen würde, aber muss.

Schreckliche Erfahrung.

Ja, aber fragen sie mich weiter, sonst werde ich emotional und das möchte ich nicht.

Ich frage Tatiana nach der Systematik der Gewalt.

Sobald eine Stadt eingenommen wird, werden als erstens ein Raum für Verhöre und ein Folterraum eingerichtet. In dem Folterraum wird vergewaltigt, nicht nur Frauen, sondern auch Kinder und Jungs. Es sind Vergewaltigungen von Kindern ab dem zweiten Monat dokumentiert worden.

Zu vielen dieser Opfer habe ich Kontakt, von denen weiß ich das auch. Verhört werden durchweg alle Menschen. Mit grenzenloser Gewalt. Wir finden Menschen mit Verletzungen, bei denen etwas weggeschnitten wurde. Sie werden schrecklich gefoltert. Es gibt Verhörräume, in denen danach alle Männer umgebracht wurden, weil sie denken, dass alle Feinde sind.

Tagebuch (5): Ukraine im Krieg

"Sie schossen durch die Küchentür, mit einem Abstand von vier Metern"

Andreis kleines Hotel in der Nähe von Kiew wird beschossen. Kurz darauf dringen russische Soldaten ein: Natalija Yefimkina hält von Berlin aus Kontakt mit Menschen in der Ukraine - und berichtet darüber in diesem Tagebuch.

"Bis du niemals wieder einen Mann an dich ran lässt"

Frauen, nicht nur Mädchen, die darum flehen, sie nicht zu vergewaltigen, sagen sie, wir werden dich so lange vergewaltigen, bis du niemals wieder einen Mann an dich ran lässt.

In Irpen, in Vorzel, nicht zu sprechen von Mariupol, gab es Räume für Folter und Räume für Vergewaltigungen. Ein Mädchen (ich arbeite nicht mit ihr, weil ich nicht zu viele Patienten aufnehmen kann, sonst brenne ich aus) ist 16 Jahre alt und war 5-6 Tage in einem solchen Raum. Sie hat nicht mehr gewusst, wann Nacht und wann Tag ist. Sie sind gekommen und haben sie vergewaltigt. Dieses Kind war dem sechs Tage lang ausgesetzt.

Auch eines meiner Mädchen haben sie mit dem Messer gestochen, es sind nicht sehr tiefe Wunden, an den Händen, an den Füßen, als ob man sie erniedrigen wollte. Sie hatte Schmerzen, sie blutete, man hat ihr die Zähne ausgeschlagen, ja..

(atmet tief aus)

Ich habe mit ihr gesprochen, sie versteht selbst nicht, warum. Ich habe den Eindruck, als würden sie uns besonders hassen. Keine Ahnung, was sie für Informationen bekommen.

Tagebuch (8): Ukraine im Krieg

"Es war sehr gefährlich, Wanja herauszubringen"

Natalija Yefimkina hält von Berlin aus Kontakt mit den Menschen in der Ukraine. Für diesen Tagebucheintrag hat sie mit Tatjana gesprochen. Die hat ihren Sohn Wanja aus Donezk herausgebracht, damit er nicht gegen die Ukraine kämpfen muss.

"Es ist einfach unmöglich zu verstehen."

Haben sie jemanden, der die Folterkammer überlebt hat?

Ich behandele einen Mann, ja. Er ist ziemlich stark, 20 Tage war er eingeschlossen. Er hatte einen Hof mit Tieren, einen Hund, Kinder und eine Frau, ein älterer Mann. Man hat ihn gequält, man hat ihm die Zähne ausgeschlagen, die Finger gebrochen und sie wollten von ihm Geständnisse, die mit ihm nichts zu tun haben. Sie genießen das, was sie machen.

Sie sehen doch, ich rede mein ganzes Leben schon Russisch. Menschen, die Russisch reden, wurden hier nie diskriminiert. Wir haben einen demokratischen Staat. Wir haben Meinungsfreiheit, wenn irgendwas bei uns nicht in Ordnung ist, kümmern wir uns selbst darum. Wir haben mit Russland nichts zu tun. Und sie töten uns, foltern und quälen uns. Sie versuchen systematisch unser ganzes Volk auszurotten. Es ist einfach unmöglich zu verstehen.

Beitrag von Natalija Yefimkina

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