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Quelle: dpa/Frederic Kern/Geisler-Fotopress

Kommentar | Umgang mit Geimpften 

Freiheiten für Geimpfte sind der Abschied vom Prinzip der Solidarität 

Monatelang galt die Losung: Wir schaffen diese Pandemie zusammen. Nun aber sollen Geimpfte ihre Freiheiten zurückbekommen, während Millionen noch auf Impfangebote warten. Das ist ungerecht, kommentiert Sebastian Schöbel.

Die Hoffnung, dass man nach Ende der Corona-Krise ihm zu Ehren Statuen errichten wird, hat Jens Spahn (CDU) vermutlich aufgegeben. Auch die Umbenennung einer Straße oder Grünanlage ist unwahrscheinlich geworden, sogar in seinem geliebten Berlin-Dahlem. Trotzdem ist nachvollziehbar, dass der Bundesgesundheitsminister nun endlich einmal mit einer guten Nachricht auffallen wollte: Geimpften könne das Leben in der Pandemie erleichtert werden, so Spahn, indem man ihre Grundrechte wiederherstellt. Oder um es pathetischer auszudrücken: Den Geimpften könne ein Stück Freiheit zurückgegeben werden.

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Abkehr vom Prinzip der Solidarität

Was gut klingt, ist in Wahrheit die Abkehr vom Prinzip der Solidarität. In einer Krise, in der es bislang immer darauf ankam, zusammenzuhalten, sollen nun die wenigen Glücklichen mit vollständiger Impfung von Auflagen wie der Quarantäne- und Testpflicht befreit werden. Während Millionen andere ohne Aussicht auf einen baldigen Impftermin weiter erdulden sollen, dass sie für die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben regelmäßig Tests machen müssen, oder jederzeit in häuslicher Isolationlanden können, wenn in ihrem Umfeld eine Infektion bekannt wird.

Dass es mitnichten um einige wenige Erleichterungen für Geimpfte geht, zeigen die Reaktionen auf Spahns Vorstoß. Zwar wurde der CDU-Mann nicht müde zu betonen, dass es lediglich darum gehe, Geimpfte wie Menschen mit negativem Testergebnis zu behandeln, nicht um eine Sonderstellung von Geimpften. Doch die grüne Berliner Wirtschaftssenatorin Ramona Pop zeigte mit nur einem Tweet, wozu Spahns Idee in der Konsequenz führen wird: Es gebe "keinen Grund, die Einschränkungen der Grundrechte für Geimpfte aufrechtzuerhalten", schrieb Pop, "Bund und Länder müssen Regelungen treffen, wie Freiheiten zurückerlangt werden können".

Dass Geimpfte das Virus gar nicht weitergeben, sagt das RKI nicht

Von ein paar wenigen Erleichterungen ist da keine Rede mehr. Geimpfte sollen ihre Grundrechte zurückerhalten, und zwar alle. Sie werden also künftig wieder in Cafés sitzen oder reisen dürfen, ins Kino gehen oder Kulturveranstaltungen besuchen können. Die Liste der neuen, alten Freiheiten ist so endlos wie verlockend.

Dabei ist die Grundlage für diesen Schritt eine recht selektive Interpretation der neuesten Erkenntnisse des Robert-Koch-Instituts. Das kommt zu dem Schluss, dass Menschen, die sich trotz Impfung erneut infizieren, das Virus deutlich weniger weiterverbreiten als Menschen, die noch nicht geimpft sind, aber nach einer Ansteckung keine Symptome haben. Was nun in der "Freiheitsdebatte" gerne überlesen wird: Dass Geimpfte das Virus gar nicht weitergeben, sagt das RKI nicht. Darauf wies im rbb zuletzt auch die Amtsärztin von Charlottenburg-Wilmersdorf, Nicoletta Wischnewski, hin.

Gleichzeitig macht das RKI klar, wie unzuverlässig Antigen-Schnelltests bei symptomfreien Infizierten sind. Kein schöner Gedanke für all die Impfwilligen im Wartestand, die sich wohl noch viele Wochen und Monate Plastikstäbchen in den Schädel stecken lassen müssen.

Manche argumentieren nun, die Freiheiten für Geimpfte wären ein schöner Anreiz, um die Impfbereitschaft zu erhöhen. Sie verkennen, dass diese Bereitschaft bereits sehr hoch ist, trotz der emotionalen Achterbahn, die uns vor allem der Impfstoff vonAstrazeneca beschert hat. Andere sagen, die "befreiten Geimpften" könnten mithelfen, die Wirtschaft wieder anzukurbeln, indem man ihnen neue Chancen zum Geldausgeben gibt. Wer so argumentiert, sollte dann allerdings auch nicht die Immobiliengeschäfte des Bundesgesundheitsministers kritisieren, schließlich hilft er damit der so arg gebeutelten Maklerbranche.

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Abschied von gemeinschaftlicher Krisenbewältigung

Wieder andere meinen, Geimpften ihre Freiheiten zurückzugeben, mache Druck auf die Regierung, das Impftempo zu erhöhen. Außerdem drohe eine Klagewelle von Geimpften und Unternehmern zugleich, weil sie sich nicht länger die Rückkehr zur Normalität verweigern lassen wollen. Vielleicht sollten dann auch die Nicht-Geimpften vor Gericht ziehen, das Argument ihrer vom Impfversagen verursachten Diskriminierung könnte vielleicht verfangen.

Viel schlimmer als all diese Szenarien ist aber, dass nun wohl endgültig der Abschied von der gemeinschaftlichen Krisenbewältigung eingeleitet wird. Denn wir sitzen dann nicht mehr alle in einem Boot: Wer geimpft wurde, darf vom löchrigen Kanu in die gemütliche Motoryacht wechseln. Vorbei die Zeit, in der die Impfwilligen den Geimpften gratulieren, während sie selbst noch auf ihren Termin warten müssen. Ja, das ist auch eine Frage von Neid – aber für den muss sich niemand schämen, nach Monaten der Entbehrung.

Vorbei die Zeit, in der man kreative Wege findet, das geteilte Leid erträglicher zu machen. Stattdessen wird eine Situation geschaffen, von der es lange hieß, dass man sie unbedingt vermeiden wolle: Dass Menschen ohne eigenes Verschulden ausgegrenzt werden.

Die Regierenden versprechen, die Impfkampagne werde nun richtig an Fahrt aufnehmen und bis zum Sommer werde fast jeder von uns eine Impfeinladung erhalten haben. Wenn das stimmt, wäre es ein starkes Zeichen der Solidarität, mit Lockerungen für Geimpfte noch so lange zu warten, bis dieses Versprechen wirklich eingelöst wurde.

Die Kommentarfunktion wurde am 08.04.2021 um 13:19 Uhr geschlossen

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Sendung: Inforadio, 08.04.2021, 8 Uhr

Beitrag von Sebastian Schöbel

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