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Video: Abendschau/rbb|24 | 29.07.2022 | Marcel Trocoli Castro | Quelle: dpa/Matthias Bein

Gärtner als Selbstversorger

Das Glück des eigenen Mini-Ackers

Die Inflation ist hoch, Preise für Lebensmittel in den Supermärkten steigen. Das macht vielen Berliner Haushalten zu schaffen. Glück hingegen haben die, die einen der begehrten Kleingärten ergattert haben und sich selbst versorgen können. Von Marcel Trocoli Castro

Helmut Witt öffnet den Stall und legt ein ängstliches Kaninchen in seinen Arm. Ein großes und schönes Tier - dessen Schicksal schon besiegelt ist: "Der kriegt einen Schlag hinter die Ohren. Dann wird er abgestochen. Das tut nicht weh. Das merkt der gar nicht. Und dann wird er abgezogen", erklärt der Rentner. "Das ist das beste Fleisch, was es gibt.” Als das Tier auf seinem Arm kotet, legt er es zurück in den Stall.

Soll irgendwann als Lebensmittel enden: Kaninchen auf dem Arm von Kleingärtner Witt | Quelle: rbb/Marcel Troccoli Castro

Der Kaninchenzüchter und Kleingärtner bezeichnet sich als Selbsterzeuger. Seit 43 Jahren bewirtschaftet der 73-Jährige eine Parzelle in der Kleingartenkolonie "Freies Land e.V." in Berlin-Weißensee: "Hier hinten sind die Stangenbohnen. Hier vorne die Tomaten. Da Basilikum, Paprika, Kartoffeln, Porree. Hier Rote Bete", erzählt Witt, während der Kleingärtner durch seine Parzelle führt. Plötzlich entdeckt er eine reife Zucchini, die er gleich erntet. Wie eine Trophäe hält er den Sommerkürbis in der Hand: "Billiger und besser als in der Kaufhalle!", sagt er und strahlt.

Datenanalyse | Kleingärten in Berlin

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Ein bisschen DDR-Feeling

Zuhause in seiner Mietwohnung habe er gleich drei Tiefkühlschränke stehen - immer randvoll mit seinen Erzeugnissen, sagt Witt. Was nicht mehr reinpasst oder von ihm und seiner Frau gegessen werden kann, verteile er unter den Nachbarn. Schon zu DDR-Zeiten sei das Haus so immer gut versorgt gewesen, während es vieles nicht immer zu kaufen gab.

In Zeiten von Inflation und steigenden Preisen, fühlt er sich wieder klar im Vorteil, sagt Witt: "Ich spare ja viel Geld. Mit diesem Geld kann ich mir etwas anderes leisten. Eine Urlaubsreise oder solche Sachen.”

Und auf diesen Trichter kommen auch andere. "Man merkt, dass bei unseren Kleingärtnerinnen und Kleingärtnern jetzt viel selbst angebaut wird", bestätigt Peter Molnár, Vorsitzender der Kleingartenanlage "Freies Land". "Das haben wir bei unserer letzten Gartenbegehung gesehen, dass das alles richtig genutzt wird, dass Kartoffeln, Tomaten, Zucchini zu sehen sind." Das Bundeskleingartengesetz schreibt vor, dass etwa ein Drittel eines Kleingartens mit Gemüse und Obst bestellt werden muss - aber natürlich geht mehr.

Wegen der hohen Preise in den Supermärkten würden inzwischen vor allem auch mehr Familien mit Kindern mehr Zeit in den Anbau von Obst und Gemüse stecken, berichtet Molnár. Auch er selbst habe den Gemüseanbau gesteigert: "Meine Auslastung ist 100 Prozent." Was nicht sofort verzehrt werden könne, werde eingeweckt oder weitergegeben.

Annette Wacker in ihrem Garten | Quelle: rbb

"Ich glaube, dass einiges noch auf uns zukommt"

In einer anderen Parzelle der Kolonie stehen Annette Wacker und Rainer Voigt in brütender Hitze in ihrem neuen Gewächshaus und pflanzen Kohlrabi. Die beiden Freunde habe den Garten erst vor einem Jahr von einer Rentnerin übernommen. Viel Erfahrung im Gärtnern und Anbauen haben sie noch nicht: “Wir probieren uns einfach aus, aber das klappt ganz gut”, sagt Annette Wacker und wendet sich zu Voigt, der gerade die Setzlinge in die Erde drückt: "So, jetzt gehst du ungefähr zwei Handbreiten nach rechts und setzt den nächsten”, erklärt sie ihm.

Rainer Voigt ist vor einem Jahr erblindet und musste seinen Job als Anästhesist aufgeben. Annette Wacker ist Frührentnerin. Jetzt haben beide die Zeit, um so viel wie möglich selbst anzubauen - denn Rainer Voigt befürchtet, dass die Lebensmittelpreise noch weiter anziehen werden. “Wir stehen noch am Anfang, und ich glaube, dass einiges noch auf uns zukommt. Und deshalb bin ich einfach froh, dass wir diese Reserve hier haben.”

Drei bis vier Stunden täglich verbringen beide mit der Gartenarbeit, erzählt die Frührentnerin. “Man muss jeden Abend gießen im Hochsommer. Es gibt auch viele Familien, die weit fahren, um in den Garten zu kommen und berufstätig sind. Ich weiß ehrlich gesagt nicht, wie sie das schaffen.” Auch sie selbst schaffe es nicht, alles für ihren Bedarf im Garten zu ziehen. Manches an Gemüse werde immer noch dazugekauft, räumt sie ein. “Aber natürlich passe ich mich an, also wenn jetzt die Bohnen reif sind, dann werde ich natürlich eher ein Bohnengericht essen. Oder die Zucchinis. Dann ist in jeder Gemüsepfanne Zucchini mit drin."

Tausende Bewerber warten auf einen Garten

Nach getaner Arbeit sitzen beide auf der Veranda vor ihrer Laube. Zum Abendbrot gibt es frisch geerntetes Gemüse. “Also man kann das überhaupt nicht mit Supermarktware vergleichen. Das ist vom Geschmack viel, viel intensiver. Einfach so lecker”, schwärmt Annette Wacker, während sie ihre eigenen Cocktailtomaten isst.

Doch in den Genuss von leckerem und überdies kostengünstigem Gemüse kommen nicht viele Berliner: Wer sich einen Kleingarten zulegen will, muss warten - teils mehrere Jahre. Seit Corona ist die ohnehin schon große Nachfrage explodiert. Auf der Warteliste für Kleingärten nur im Bezirk Pankow stehen laut Vorstand Molnár aktuell 2.000 Menschen.

Sendung: Abendschau, 26.07.2022, 19:30 Uhr

Beitrag von Marcel Trocoli Castro

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