Konzertkritik | Orchester "O/Modernt" bei Young Euro Classic - Wenn das Mittelalter stilsicher mit der Moderne verschmilzt

Di 16.08.22 | 08:16 Uhr | Von Hans Ackermann
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Konzerthaus berlin (Quelle: dpa/Daniel Kalker)
Audio: rbb24 Inforadio | 16.08.2022 | Hans Ackermann | Bild: dpa/Daniel Kalker

Im Berliner Konzerthaus findet zurzeit das Festival "Young Euro Classic" statt. Am Montag war dort der Auftritt des schwedischen Orchesters "O/Modernt" zu erleben. Siebzehn junge Musikerinnen und Musiker, die klangliche Experimente wagen. Von Hans Ackermann

Die jungen Musikerinnen und Musiker aus Schweden haben Mut - soviel steht schon fest, wenn man an diesem Abend schon vor den ersten Tönen ins Programmheft schaut. Und unter der Überschrift "Milestones" liest, was gleich geboten wird: ein Kammerorchester mit siebzehn Streicherinnen und Streichern spielt zusammen mit einer vierköpfigen Jazzband Musik von Josquin Deprez, Igor Stravinsky und Miles Davis - ist der große Saal im Konzerthaus etwa deshalb nur zu zwei Dritteln gefüllt ?

Klangzauberei und stilistisches Kunststück

Renaissance, Frühe Moderne und eine Jazz-Ikone des 20. Jahrhunderts also in einem Programm - das chronologisch bei Josquin Desprez beginnt. Am Anfang steht die Melodie aus dem Mittelalter noch ganz allein, dann fließen langsam immer mehr moderne Harmonien ein, bis sich das mehr als 500 Jahre alte "Ave Maria" direkt und ohne Umschweife in Miles Davis' "Selim" aufgelöst hat - Klangzauberei.

Das junge Orchester, das dieses stilistische Kunststück vollbringt, kommt aus Stockholm und nennt sich "O/Modernt". Ein schwedisches Wortspiel, das sich mit "Un/Modern" übersetzen lässt. Denn in Wirklichkeit ist es sehr modern, was hier mit der Musik von Desprez und Davis passiert - eine Fusion, die ihresgleichen sucht. Und auch beim dritten Komponisten überzeugt, wenn Igor Stravinskys "Drei Stücke für Streichquartett" in Josquins berühmtes Lied "Mille regretz" aus dem dem Jahr 1500 übergehen und man bei "In a Silent Way" von Miles Davis stilsicher ankommt.

Offen für Experimente

Den atemberaubenden Stilmix hat sich der Leiter des schwedischen Ensembles ausgedacht, Hugo Ticciati. Wie sein in Berlin lebender jüngerer Bruder - Robin Ticciati, Chefdirigent des Deutschen Symphonie-Orchesters Berlin - ist auch der 1980 geborene Londoner, seit Jahren in Schweden lebende, exzellente Geiger offen für Experimente aller Art. Im Interview, das im Festival-Blog nachzulesen ist, nennt Hugo Ticciati die drei Komponisten, Josquin, Stravinsky und Davis "Stilikonen ihrer jeweiligen Zeit" , betont die "kulturelle Verbindung" zwischen den Werken und die "Melancholie, die sich durch alle Stücke" des Abends ziehen würde.

Saalfüllende Solisten

In traumwandlerischer Klangtreue verbindet sich das schwedische Kammerorchester unter Ticciatis Leitung mit den vier exzellenten Jazzsolisten des Abends: Nils Landgren an der Posaune, dazu der Schlagzeuger Robert Ikiz sowie der vorzügliche Kontrabassist Jordi Carrasco Hjelm, "Kopf" dieser in das Orchester vollständig integrierten Jazzband ist der britische Pianist Gwilym Simcock. Er hat die Bearbeitungen der Miles-Davis-Titels angefertigt, gibt seinen Musikern die Einsätze vom Klavier aus - es sei denn, er spielt gerade eines seiner ausgedehnten Soli. In diesem Fall übernimmt Landgren, der mit seinem beeindruckenden Posaunenspiel den riesigen Saal mühelos allein ausfüllen könnte.

Organischer Zusammenklang

Aber gerade im Zusammenklang, wenn das kreative klassische Kammerorchester mit den herausragenden Jazzmusikern zusammenspielt, entstehen klangliche Momente, die man in Berlin so schnell nicht vergessen wird. Vor allem den Schlussteil des Konzerts, wenn sich zwischen "So what" und "All Blues" von Miles Davis ein zartes Lied von Josquin Desprez organisch einfügt: "La plus des plus". 500 Jahre Musikgeschichte, die an diesem Abend in zwei Stunden wie im Fluge vergangen sind.

"O/Modernt" haben bisher nur eine einzige CD aufgenommen, "From the ground" heißt das Album mit Musik von Henry Purcell und Texten von William Shakesspeare. Manche Titel spielt das schwedische Kammerorchester dort schon 2019 mit einem "Swing", der sich jetzt im neuen Programm "Milestones" konsequent fortsetzt - und hoffentlich auch bald als CD erscheinen wird.

Sendung: rbb24 Inforadio, 16.08.2022, 07:50 Uhr

Beitrag von Hans Ackermann

1 Kommentar

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  1. 1.

    Merkwürdig, wenn Josquin als Komponist des "Mittelalters" bezeichnet wird.

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